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Alternative Baumaterialien: Myzelwerkstoffe

Der Pilz macht´s: Myzelbasierte Materialien nachhaltig und wirtschaftlich

Für die meisten von uns sind Pilze nur Nahrungsmittel – eventuell auch noch Krankheitserreger. Ein Fehler, denn diese erstaunlichen Lebewesen sind noch zu viel mehr imstande: Sie wachsen auf pflanzlichen Reststoffen aller Art und verbinden diese zu flexiblen oder festen Formstücken, aus denen neue nachhaltige und wirtschaftlich attraktive Produkte wie Leder- und Styroporersatz oder Baustoffe werden können. Das Herstellungsverfahren für diese Myzelwerkstoffe ist etabliert, nun sind Firmen als Pioniere gefragt, um die Innovation rasch konkret umzusetzen.

Pilze sind keine Tiere und keine Pflanzen – auch wenn man das lange geglaubt hat. Sie stellen ein eigenes Reich in der biologischen Klassifikation dar, und ihr Organismus beschränkt sich nicht nur auf das, was wir sehen, den Fruchtkörper. Denn der eigentliche Teil lebt unterirdisch und bildet dort ein weit verzweigtes Geflecht aus hauchdünnen Pilzfäden, ganz ähnlich den Wurzeln der Pflanzen. Dieses sogenannte Myzel kann fast unvorstellbare Ausmaße annehmen: Ein Quadratmeter Boden kann leicht eine Milliarde solcher Myzelien enthalten. Ein äußerst effizientes System, das gleichzeitig überhaupt nicht anspruchsvoll ist, organisches Material aller Art durchwächst und wie Kleber zu einer festen Struktur verbindet.

Pilzspore plus Reststoff ergibt innovatives Material in vielerlei Variationen

Die Baumpilze, die an Baumstämmen wachsen.
Mit Hilfe von Pilzen wie dem Glänzenden Lackporling (Ganoderma lucidum) links oder dem Austernseitling (Pleurotus ostreatus) rechts könnten zukünftig viele Objekte unseres Alltags nachhaltig aus Reststoffen aller Art hergestellt werden.
Bildquelle (links): Wikipedia / Eric Steinert, unverändert (CC BY-SA 3.0 DEED, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)
© Bild rechts: Unsplash / Volodymyr Tokar

Ein interessanter Kandidat also für neue, nachhaltige Materialien, wie Forschende schon vor Jahren fanden und begannen, mit myzelbasierten Materialien zu experimentieren. Mit Erfolg, denn herausgekommen ist ein bereits gut etabliertes Herstellungsverfahren für verschiedenste Werkstoffe. Die Methode ist einfach: Man gibt Pilzsporen zu Reststoffen, etwa zu Sägespänen, zerhäckselten Pflanzenstängeln, die sonst verbrannt werden würden, oder sogar zu Biomüll wie Kaffeesatz. Die Möglichkeiten sind hier nahezu grenzenlos, denn die meisten Pilzarten sind äußerst genügsam, wachsen fast auf jedem organischen Substrat und dringen in dieses ein. Die Art des Reststoffs entscheidet unter anderem über die gewünschte Anwendung, also über die späteren Materialeigenschaften und -qualität. Sprich: ob das Produkt weich und flexibel oder eher hart und robust sein soll. Weitere Einflussmöglichkeiten ergeben sich durch die Kombination mit anderen Materialien wie etwa Kalkstein zu Verbundwerkstoffen oder durch die gezielte Einstellung der Wachstumsdichte.

Doch damit der Variation noch nicht genug: Derzeit sind über 100.000 Pilzarten erfasst (man geht jedoch von bis zu knapp 4 Mio. aus).1) Hieraus ergeben sich - je nachdem, welche Spezies man wählt - nochmals unendlich viele Möglichkeiten, um unterschiedliche Materialien zu erzeugen. In eine Form hineingewachsen, werden die festen Stücke dann getrocknet, um das Wachstum zu stoppen und zu formbaren Werkstoffen gepresst. Eine alternative Möglichkeit ist es, aus den Reststoffen eine Paste für den 3D-Druck herzustellen und erst danach vom Pilz durchwachsen zu lassen.

Häuser, Möbel, Verpackungen, Verbundwerkstoffe und noch viel mehr

Die konkreten Produkte, die bereits aus myzelbasierten Materialien hergestellt werden konnten, lassen staunen: Wer beispielsweise Pilzhäuser lediglich mit Behausungen für die Wichtel seiner Kindheit verbindet, sollte rasch umdenken. Denn mithilfe des Baumpilzes Glänzender Lackporling und Holzspänen hat ein Team des Karlsruher Instituts für Technologie KIT in Kombination mit Fasern aus Hanf oder Flachs Bausteine für den Hausbau hergestellt und könnte so sogar ganze Wände wachsen lassen. Entsorgt wird ein solches Haus einfach auf dem Kompost. Auch ein myzelbasierter Ersatz zum klimaschädlichen Beton wäre realisierbar. So wird das Potenzial des biobasierten und bioabbaubaren Materials für die Bauindustrie durch seine besonderen Eigenschaften wie die gute Feuerbeständigkeit, Wärme- und Schalldämmung, geringe Dichte und Gewicht sowie die Verarbeitungsmöglichkeit zu verschiedenen Endprodukten in unterschiedlichen Formen als überaus groß eingeschätzt.

Vier Bilder beginnend mit weißen Pilzsporen und dunkelbraunen Kokosfasern zu einem weißen erst plüschigen, dann festen Objektwürfel aus Pilzmyzel.
Kultivierungsschritte eines Austernseitlings (Pleurotus ostreatus) auf Kokosfaser: a) P. ostreatus auf Malzextraktagar nach 5 Tagen Kultivierung, b) Kokosfaser, gesiebte Partikelfraktion 50 – 150 µm vor der Inokulation, c) 3D-gedruckter Würfel (Größe: 1 Kubikzentimeter) nach 4 Tagen Kultivierung, d) 3D-gedruckter Würfel (Größe: 1 Kubikzentimeter) nach vierstündiger Trocknung im Ofen bei 120 °C. © Fraunhofer IGB

Weitere Vorreiter bei der Entwicklung myzelbasierter Produkte sind Forschende an Fraunhofer-Instituten: Am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP in Potsdam arbeitet man z. B. an tierfreien Alternativen für Lederprodukte, die unter anderem als vegane Schuhe oder Geldbörsen, Innenausstattungen für Autos oder in Möbeln realisiert werden sollen. Weiterhin wird das Potenzial für Verpackungen erforscht. Auf diesem Gebiet werden in den USA bereits Lösungen, beispielsweise als Styroporersatz, erfolgreich vermarktet und von prominenten Kunden wie Dell oder Ikea genutzt. Aber nicht nur dort sind solch nachhaltige Alternativen zu Plastik dringendst gefragt und deshalb für Unternehmen außerordentlich Erfolg versprechend.

Auch die weitere Optimierung der Materialleistung, die Qualitätssicherung für konkrete Anwendungen sowie geeignete industrietaugliche Fertigungsverfahren sind derzeit bereits im Fokus der Fraunhofer-Forschenden. In der Plattform LoopOfFun (Closed-loop control of fungal materials) beispielsweise arbeiten verschiedene internationale Partner an einer schnellen Entwicklung industrieller, einstufiger, einfacher gießtechnischer Herstellungsverfahren für Multistrukturmaterialien auf der Basis nachwachsender und lokal gewonnener Rohstoffe.

Die Liste der neuen Produkte und Ideen aus der Naturwerkstatt ist damit noch lange nicht zu Ende: Am Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT in Oberhausen wurde ein 3D-gedruckter, pilzbasierter Schallschutz, weitere Dämmstoffe am Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP in Stuttgart erarbeitet. Hierfür konnte bereits nachgewiesen werden, dass die Wärmeisolierung mit denen von marktüblichen ökologischen Dämmstoffen konkurrenzfähig ist.2)

Aber auch andernorts gibt es vielfältige Ideen für Produkte aus Pilzmyzelien. Diese reichen von Lebensmitteln als Fleischersatz über Leiterplatten für Elektronikbausteine bis hin zu organischem Verbandsmaterial oder einer Roboterhaut, die sich selbst heilt und noch vielem mehr.

Materialien gleichzeitig wirtschaftlich erfolgreich und nachhaltig

Ein großes Stück schwarzes Pilzleder, von einer Hand gehalten.
Tierfreies Leder kann bereits als myzelbasiertes Material hergestellt werden. Beispielsweise kann man Geldbörsen aus diesem nachhaltigen Material bei uns schon kaufen. © Fraunhofer IAP

Das Zukunftspotenzial myzelbasierter Werkstoffe ist also riesig – vorausgesetzt, man verpasst die Umsetzung in die Praxis jetzt nicht. „Sowohl die Produktionskosten als auch der ökologische Fußabdruck sind sehr viel günstiger als bei aktuell gängigen fossilbasierten Materialien“, erklärt Sabine Krieg, Innovationsmanagerin am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart. „Denn zur Herstellung braucht man viel weniger Energie und durch ihren natürlichen Ursprung sind die Pilzwerkstoffe ressourcensparend und biologisch abbaubar.“

Gemeinsam mit Dr. Liliya Pullman vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe beschäftigt sich Krieg mit der Vereinbarung von wirtschaftlichen und ökologischen Zielen in Industrie und Gesellschaft, unter anderem auch mit dem nachhaltigen Material aus Myzel: „Und von Produktionsseite könnten die Werkstoffe mit wenig Anpassung auf herkömmlichen Maschinen verarbeitet werden. Dies wurde am Forschungsinstitut VTT Finland bereits beispielhaft getestet, das Myzelleder erfolgreich im Rolle-zu-Rolle-Verfahren produziert – man müsste also nicht die komplette Fertigungswelt neu erfinden und kommt so schnell zu wirtschaftlichem Erfolg.“ Pullmann ergänzt: „Deshalb schätzen wir das Potenzial des Materials als so groß ein, weil es gleichzeitig wirtschaftlich interessant und ressourcenschonend ist – also damit ein äußerst attraktives neues Feld speziell für Baden-Württemberg wäre. Eine Transformation steht an und wäre hier beispielsweise für die Bau- und Verpackungsindustrie sowie für den Automobilsektor bzw. ihre Zulieferer interessant. Ideen gibt es genug.“

Aber nicht nur die Ausgangsstoffe selbst, auch ihre Herstellung ist nachhaltig: „Die Abfallströme fallen regional an“, sagt Pullmann. „Man blockiert weder landwirtschaftliche Flächen noch muss man sie über weite Strecken transportieren. So können ganze Lieferketten optimal und nachhaltig regional gestaltet werden. Und auch Arbeitsplätze können so im Land erhalten werden, indem neue Berufsbilder entstehen und alte durch Fortbildung leicht angepasst werden können.“

Förderprogramm für Materialinnovationen auf der Wunschliste

Jedoch ist schnelles Handeln jetzt vonnöten, denn auch die internationale Konkurrenz hat das (wirtschaftliche) Potenzial erkannt. „Nun sind die Wirtschaftsförderer gefragt, um branchenübergreifend Reststoffe, myzelbasierte Werkstoffe und Firmen zusammenzubringen – Material sucht Anwendung und umgekehrt“, so Krieg. „Wenn wir das jetzt nicht verpassen, könnte Baden-Württemberg zum Automobil-Ländle bald auch ein ,Innovative-Material-Länd‘ werden. International gibt es bereits eine wachsende Community an Start-ups, die schießen im wahrsten Sinne des Wortes wie Pilze aus dem Boden. Nun müssen auch bei uns Prototypen entwickelt, Studien zu Akzeptanz, Bedarf und Anreizen durchgeführt und Firmen beraten werden. Das Thema wird erfreulicherweise immer häufiger auch bei öffentlich geförderten Projekten genannt, das ist aber noch lange nicht genug. Ein gemeinsamer Wunsch von uns ans Wirtschaftsministerium wäre ein Förderprogram für Materialinnovationen. Das wäre ein wirklicher Beschleuniger, durch den Firmen im Land profitieren. Denn mit Materialien ,made in Baden-Württemberg‘ könnten wir wirklich konkurrenzfähig punkten.“

Referenzen:

1) Freie Universität Berlin, Pressemitteilung (2017): „Pilze sind das zweitgrößte Organismenreich der Erde: Studie schätzt globale Pilzvielfalt auf 2,2 bis 3,8 Millionen Arten.“ www.bgbm.org/de/pr/pilze-sind-das-zweitgroesste-organismenreich-der-erde-studie-schaetzt-globale-pilzvielfalt-auf

2) E. Kotan et al. (2023): „Bauphysikalische Untersuchungen an Myzel-basierten Materialien für den Einsatz als Wärmedämmmaterial“. Bauphysik 45 (1), 55 – 59. https://doi.org/10-1002/bapi.202200040

Seiten-Adresse: https://www.biooekonomie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/der-pilz-machts-myzelbasierte-materialien-nachhaltig-und-wirtschaftlich