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Getreidespelzen statt Styropor: Verpackungen mit gutem Gewissen
Styroporverpackungen sind sehr praktisch, werden aber aus Erdöl hergestellt und sind auch sonst wenig umweltfreundlich. Als Einweg-Behälter sind sie deshalb seit dem 3. Juli 2021 verboten, aber auch für andere Anwendungen sind dringend Alternativen gefragt. Das Stuttgarter Start-up PROSERVATION hat ein ökologisches Verpackungsmaterial aus Getreidespelzen entwickelt, das Styropor gleichwertig ersetzen könnte.
Styropor – auch „Expandiertes Polystyrol” (EPS) oder airpop genannt – hat viele gute Eigenschaften: es ist leicht, aber dennoch stabil und stoßfest, preisgünstig und wärmedämmend bzw. kälteisolierend sowie feuchtigkeitsbeständig. Verständlich also, dass schützenswerte Güter gerne damit verpackt werden – allerdings mit fatalen Auswirkungen auf unsere Umwelt. Nicht nur, dass es zur Herstellung von einem Kilogramm Styropor fast drei Liter Erdöl braucht. Auch der Produktionsvorgang an sich ist energieintensiv und die Entsorgung problematisch: Das Material ist nicht abbaubar, landet es in der Natur, dauert es Jahrhunderte bis es zu Mikroplastik zersetzt wird, wodurch es immer noch ein ökologischer Problemfall ist. Zudem ist es seit dem Verpackungsgesetz von 2019 als nicht recyclingfähig eingestuft.
Höchste Zeit also, um sich nach Alternativen umzusehen. Deshalb sind neuartige Verpackungslösungen auch ein immer wichtiger werdendes Thema im Studiengang Packaging Development Management an der Hochschule der Medien (HdM) in Stuttgart. Hier wurde die ehemalige Masterstudentin Lisa Antonie Scherer im Rahmen eines Studienprojekts vor die Aufgabe gestellt, mit Cellulose-Schäumen zu experimentieren, um polsternde Lufteinschlüsse für Verpackungszwecke zu generieren. Dabei stellte sie sich die Frage, welche organischen Materialien von Natur aus derartige Hohlräume aufweisen – und ob es nicht klüger wäre, diese zu verwenden. Ihr fiel spontan der eigene Vater ein, der schon lange jede Nacht auf einem Spelzpolsterkissen verbringt, und sie begann, mit einem Material aus Getreidespelzen zu experimentieren.
Spelzverpackungen nutzen natürliche Reststoffe
Als Spelzen werden die trockenen Deckblätter von Gräsern – besonders von Getreide - bezeichnet, die die Blüten schützen und nach dem Dreschen als bislang weitestgehend ungenutzte Reststoffe anfallen. Im Rahmen ihrer Experimente entwickelte die damalige Studentin einen Prototyp eines Verpackungsmaterials aus Spelzen, der das Interesse von Prof. Dr. Michael Herrenbauer weckte, der die Arbeit an der HdM betreut hat. Die damaligen Anstrengungen Scherers haben sich mehr als gelohnt: Heute kann die junge Verpackungstechnikerin nicht nur ihren Masterabschluss vorweisen, sondern sie hat ihre innovative Idee bereits für ein europaweites Patent angemeldet – und eine Unternehmensgründung ist in Planung.
Gemeinsam mit Schwester Sophia Scherer (B. Eng. Verpackungstechnik), den beiden Freunden Nils Bachmann (M. Sc. Wirtschaftsinformatik) und Henning Tschunt (MBA Nachhaltige Unternehmensführung) sowie Fachbereichsleiter Herrenbauer als Mentor steht Lisa Antonie Scherer kurz vor der Gründung des eigenen Unternehmens, unterstützt durch ein staatlich gefördertes EXIST-Programm. PROSERVATION heißt das Start-up, ein Kunstwort, das den proaktiv-optimistischen Ansatz der Gründer mit der Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlage kombiniert.
Dinkel, Reis & Co: Alles, was Hohlräume hat, kommt infrage
Für das neuartige Material, das das Herzstück des Unternehmens bildet, können Spelzen aller Art verwendet werden. „Momentan kommen bei uns hauptsächlich Dinkelspelzen zum Einsatz, weil wir diese ohne lange Wege aus der Region beziehen können“, erklärt Tschunt, der bei sich bei PROSERVATION um die Unternehmensstrategie kümmert. „Wir haben aber noch viele weitere Spelzarten im Test, zum Beispiel experimentieren wir gerade mit Reis und Buchweizen. Grundsätzlich kommen aber alle Spelzen in Frage, deren Hohlräume nach dem Dreschen bzw. Entspelzen weitgehend erhalten bleiben.“
Mit einem simplen und energiearmen Herstellungsprozess, der aktuell mit dem Ziel einer industriellen Skalierung optimiert wird, lassen sich individuelle Polsterteile in Form bringen. „Man kann dabei verschiedene Härtegrade erreichen, von knautschig bis sehr hart, sogar noch härter als Styropor. Die zur Formgebung notwendigen Negativformen für erste Prototypen werden vom Team selbst konstruiert und aktuell mit 3D-Druckern an der HdM realisiert. „Momentan arbeitet unser Team noch mit einer recht provisorischen Pilotanlage, allerdings soll das Verfahren zeitnah in einen industriellen Herstellungsprozess übersetzt werden“, berichtet der Gründer.
Versandverpackung für Glasgefäße und Kantenschutz als erste Produkte
Erste konkrete Produkte aus dem neuartigen Material sind schon in Arbeit. „Unser Material zeigt seine Vorteile insbesondere im direkten Vergleich mit EPS. Was als Zielmarkt für uns relevant ist, sind in erster Linie Haushaltsgeräte (weiße Ware), die hier in Deutschland verpackt werden“, sagt Tschunt. „Allerdings muss hierfür noch einiges geklärt werden, deshalb haben wir uns nach einem Überbrückungsmarkt umgesehen. Und sind zunächst auf den Versand von Weinflaschen gestoßen – hochaktuell in der Coronapandemie. Besonders zu biologisch angebautem Wein aus der Region würde unsere nachhaltige Verpackung natürlich gut passen. Aber die meisten Winzer, mit denen wir gesprochen haben, haben schon akzeptable Lösungen aus Pappe und sehen momentan nicht unbedingt die Notwendigkeit, diese zu ersetzen. Wir verfolgen dies aber weiter und haben schon Prototypen für 2er- und 6er-Versandkartons entwickelt.“
Was für Weinflaschen noch nicht konkret wird, gilt jedoch nicht für die Verpackung anderer Glasbehältnisse: „Manchmal entwickeln sich die Dinge doch anders als ursprünglich geplant“, meint Tschunt. „Über den Kontakt zu dem Start-up Reco-E, das Metallpulver aus Elektroschrott recycelt und dieses in Glasgefäßen verschickt, entwickeln wir derzeit unser erstes Pilotprodukt und wollen uns dann auch weiter auf Lösungen für den Versand von Glasbehältnissen konzentrieren. Ein zweiter Schwerpunkt sollen darüber hinaus simple Schutzecken für den Kantenschutz sein, die sich sehr gut aus dem neuartigen Material fertigen lassen.“
Zukunftsvision: Möglichst viel Styropor durch Spelzverpackungen ersetzen
Nachhaltige Konkurrenzprodukte, die ebenfalls den „Endgegner Styropor“ anvisieren, wie Tschunt den Marktführer nennt, gibt es schon. Etwa cellulosebasierte Lösungen, Materialien aus Pilz-Mycelien oder aus Stroh. „Aber noch kein vergleichbares Material mit Eigenschaften wie Styropor oder unserer Spelzverpackung“, sagt er. „Und was den Preis angeht, so rechnen wir damit, unsere Verpackung zukünftig nicht wesentlich teurer als Styropor anbieten zu können. Nämlich sobald unsere Produktionsmenge größer wird und EPS durch politische Steuerung teurer, denn die Spelzen sind Reststoffe und damit sehr, sehr günstig.“
Derzeit befinden sich die Produkte des zu gründenden Unternehmens noch in einem sehr frühen Stadium. Die Räumlichkeiten wurden von der HdM zur Verfügung gestellt: drei kleine Container, in denen sich Pilotanlage plus Büroecken befinden. Bis zum Ende der EXIST-Förderphase Anfang 2022 steht das Gründerteam noch vor einem großen Berg Arbeit. Die sich auszahlen soll, denn wenn alles so läuft wie geplant, kann man in den nächsten Jahren zunehmend zur Einsparung von Plastik durch Ersatz von Styroporverpackungen beitragen – davon sind sie überzeugt.