Hauptnavigation
Mit KI zur Treibhausgasreduktion für Abwasserbetriebe
Die Abwasserindustrie ist für einen Ausstoß an Treibhausgas-Emissionen verantwortlich, der dem der globalen Luftfahrt entspricht. Das Start-up Variolytics ermöglicht mit einer weltweit ersten Echtzeitanalytik, Treibhausgase in Kläranlagen erheblich zu reduzieren. Mit patentierter Sensortechnik und KI-gestützter Prozessoptimierung erhalten Kommunen und Industrie einen Mehrfachnutzen: Neben klimaschädlichem Lachgas werden auch Energiekosten und Ressourcen deutlich eingespart.
Kläranlagen spielen auf dem Weg zur Klimaneutralität eine wichtige Rolle, denn rund zwei Prozent der globalen CO2e-Emissionen1) gehen auf ihr Konto. Der Grund: Bei der biologischen Abwasserreinigung entsteht als Nebenprodukt Lachgas, Distickstoffmonoxid (N2O), das 273-mal klimaschädlicher ist als Kohlenstoffdioxid.
Klimafaktor Abwasser – bisher vernachlässigt
Unternommen wurde bisher wenig: Es gibt für Kläranlagen weder ein System zur Überwachung und Reduzierung von Treibhausgasen noch gesetzliche Vorgaben. Variolytics will das ändern: Das Stuttgarter Start-up hat ein weltweit einzigartiges System zur simultanen Messung von flüchtigen Stoffen aus Flüssigkeiten und Gasen entwickelt und mit KI-Modellen und eigener Software verknüpft. Ready to flow – denn die patentierte Plattformtechnologie zur Treibhausgasreduktion von Abwasseranlagen hat Marktreife erlangt. „Mit unseren Messgeräten und dem Service ermöglichen wir, Industrieprozesse genauer abzubilden und besser zu steuern, um effizient und nachhaltig zu werden“, erklärt Dr. Matthias Stier, Geschäftsführer und Mitgründer von Variolytics.
Im Zentrum steht Lachgas. Während ein Entwurf der EU-Richtlinie für kommunales Abwasser2) erstmals Treibhausgasemissionen aus Kläranlagen aufgreift, liefert Variolytics den Nachweis zur Emission von Lachgas sowie Zusammenhänge. Dem Unternehmen ist es wichtig, die Zahlen zu benennen und unterstützt dies dank ihrem einzigartigen Messsystem. Mehr noch: Das Team ermöglicht einen effizient und schnell umsetzbaren Reduktionspfad. Der zudem ökonomisch attraktiv ist.
Emission Control System – Enthüllung der belebten Materie
Variolytics ist 2020 als Spin-off des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB entstanden. Die Ingenieure, Naturwissenschaftler, Informatiker und Ökonomen haben eine gemeinsame Mission: Unsichtbares sichtbar zu machen, um u. a. Schadensfälle in der Umwelt aufzudecken. Den Industriekunden und -kundinnen soll ein besseres Verständnis über ihre Prozesse ermöglicht und diese optimiert werden.
Herzprojekt des Start-ups ist das von Bundesministerien geförderte Verbundvorhaben „Künstliche Intelligenz für klimaneutrale Kläranlagen (KIkKa)“3) mit dem zentralen Bestandteil EmiCo, kurz für: Emission Control-System. „Wir messen mit hochauflösenden Sensoren klimaschädliche Lachgase und steuern mit Künstlicher Intelligenz Abwasserreinigungsprozesse klimaoptimiert“, beschreibt Stier.
Die Crux bei Kläranlagen: Die biologischen Vorgänge sind hochkomplex und noch nicht im Detail verstanden. Damit Mikroorganismen die Verunreinigungen im Abwasser abbauen, wird das Belebungsbecken mit Luft begast. Wird zu viel zugeführt, erhöhen sich die Energiekosten ohne Steigerung der Ausbeute. Wird zu wenig begast, entsteht mehr Lachgas. „Lachgasemissionen verursachen aktuell mehr als 70 Prozent des CO2e-Fußabdrucks einer Kläranlage. Wir möchten Lachgas komplett eliminieren“, erklärt Stier. Als Prozessingenieur und Wissenschaftler an der Universität Stuttgart und dem Fraunhofer IGB kann er auf einen großen Erfahrungsschatz zurückblicken. Bei den Klärbecken blickt er tief in die Materie: „Mit unserem System ist erstmals eine gleichzeitige Messung aller Gaskomponenten in der Gas- und Flüssigphase möglich. So können wir die Stoffwechselvorgänge von Mikroorganismen und folglich Emissionen in Belebungsbecken überwachen.“
Perfektes Trio – Patentierte Messtechnik, Software und KI
Zugrunde liegt der patentierte EmiCo-Analysator, ausgestattet mit einem Quadrupol-Massenspektrometer zur Gasanalyse und einem Einlass-Massenspektrometer mit Membran- und Vakuumsystem für die Flüssiganalyse. Das System misst alle flüchtigen Komponenten mit hoher Nachweisempfindlichkeit in Echtzeit. Fast wie Helikopter-Eltern: Über mehrere Becken mit den kleinen Lebewesen kann der Analysator an bis zu zwölf Stellen simultan die Zustände rund um die Uhr abbilden. Dazu ist er mit hauseigener Software und einer Ventilschaltung ausgelegt, die die Messung aus der Flüssig- und Gasphase kontinuierlich abwechselt.
Doch Messen und Überwachen allein war dem Start-up nicht genug: „Mit unserem Partner Dr. Jörg Gebhardt haben wir einen noch effizienteren und nachhaltigen Weg gefunden.“ Der Physiker und ehemalige Geschäftsführer eines Softwarebetriebs zur Verfahrensmodellierung hat sich auf die intelligente Optimierung von Wasser- und Abwasserprozessen spezialisiert. „Wir kombinieren physikalische Leistungsdaten mit KI-Modellen und Algorithmen.“ Klärwasseraufbereitung wird intelligent.
Weltneues KI-Leuchtturmprojekt – 50 Prozent Klimagase und 20 Prozent Energie gespart
„Nach Installation an die Belebungsbecken sammelt EmiCo autark Daten über die Bildung von Gasen“, erklärt Stier. „Die Echtzeitwerte liefern Erkenntnisse über den Zustand der Belebungsstufe. Dann werden die gängigen Prozessparameter der Kläranlage mit den Lachgas- und Methanwerten korreliert.“ Auf Basis der generierten Daten steuert die Software das Belüftungssystem und optimiert dieses. „Durch eine validierende Messung stellen wir sicher, dass keine schädlichen Treibhausgase emittiert werden, was einmalig am Markt ist. Bisherige Systeme können nur die Gas- oder nur die Flüssigphase messen, EmiCo kann beides. Und durch die Optimierungen sparen wir auch Energie und Chemikalien ein“, so Stier.
Grundlage des Optimierungsmodells ist ein künstliches neuronales Netzwerk (KNN), das aus den bereitgestellten Daten lernt und durch klassische mathematische Methoden unterstützt wird. Nach dem Nachweis der Vorhersagequalität kann das KNN eingesetzt werden, um die Anlagensteuerung hinsichtlich Begasung, Zirkulation und vorgelagerten Klärprozessen zu unterstützen. Werkzeuge wie Korrelationsanalysen, statistische Analysen oder Sensitivitätsdiagramme sind bei den Modellrechnungen im Spiel. Ein transparentes Spiel, wie Stier erklärt: „Das Modell zeigt Prognosen für erwartete Prozesswerte, sodass der Abwasserbetrieb gezielte Steuerungsmaßnahmen einleiten kann. Unsere KI dient dazu, Handlungsempfehlungen bereitzustellen.“
Geht es um Risiken durch KI, hat Stier eine klare Antwort: „Unsere KI ist von der Intention und den zugrunde gelegten Daten abhängig. Sie hilft, Prozesse effizienter und sicherer zu machen. Wir Anwender überprüfen und verantworten dabei die Auswahlmöglichkeiten der KI.“
Das Ergebnis spannt den Bogen von der Philosophie von Variolytics zu einer umweltverträglichen Zukunft. Stier kann eine interessante Rechnung aufmachen: „In Deutschland verbrauchen die rund 10.000 kommunalen Kläranlagen ca. 4.400 GWh Strom pro Jahr und setzen ca. 4 Mio. t CO2 frei. Eine flächendeckende Verwendung unseres Systems könnte 880 GWh Strom und 2 Mio. t CO2e pro Jahr sparen, d. h. 20 Prozent Strom und 50 Prozent Treibhausgase.“
Skalierung und Übertragbarkeit für die Klimaziele 2030
Der modulare Aufbau von EmiCo ermöglicht eine Anlagenintegration und Erweiterung je nach Bedarf. Ein fließender Prozess. Dass es gut läuft, zeigen auch Auszeichnungen wie der Stuttgarter Innovationspreis 2021. Variolytics konnte so das fortschrittlichste Prozessleitsystem für Wasserversorger etablieren: von Beratung, Probelauf, Installation und Schulung über Datenerfassung und Optimierung bis hin zum Support. So befindet sich ihr System u. a. in Ulm und Stuttgart-Möhringen: In der einjährigen Kontrollphase werden saisonale Effekte abgebildet, als starker Fundus, um darauf aufbauend das KI-gestützte System autark laufen zu lassen.
Dem Start-up geht es um mehr als wirtschaftliches Interesse. „Uns ist wichtig, das erlangte Know-how einer breiten Gemeinschaft zugänglich zu machen, von Kommunen, Industrie bis hin zu Entscheidungsträgern. Mit unserer Technik und den erzielten Ergebnissen ließe sich ein eigener Emissionsfaktor für jeden Kläranlagentyp schaffen. Somit könnte das Projekt für künftige Gesetzesvorhaben relevant sein und zur Klimaneutralität von Kommunen beitragen.“
Ein aussichtsreicher Aspekt mit hoher Brisanz, in Hinblick auf die Klimaziele. „Unsere Aufgabe ist, bis 2030 eine schnelle, skalierbare Lösung zu entwickeln, um in Deutschland die größten Kläranlagen zu optimieren.“ Dazu wünscht sich das Team als Hardware-Start-up mehr Unterstützung, etwa durch Innovationskredite oder Fonds. „Wir möchten eine Übertragbarkeit auf jede Abwasserreinigung realisieren und im nächsten Schritt auf ganz Europa ausweiten“, so Stier. Das Team steht bereit, um die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer klimaneutralen Zukunft zu gehen.
Referenzen/Fußnoten:
1) CO2-Äquivalente-Emissionen
2) EU-Richtlinie für kommunales Abwasser 91/271/EWG (Urban Wastewater Treatment Directive)
3) Das Verbundprojekt „Künstliche Intelligenz für klimaneutrale Kläranlagen (KIkKa)“ wird unterstützt durch die Ministerien: Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft sowie Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus.