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Nach oben gedacht: Vertical Farming zur kontinuierlichen Produktion weiterentwickelt
Mit einer neuartigen Technologie will ROKO Farming nicht nur ganzjährig und weltweit Obst und Gemüse erzeugen. Gleichzeitig sollen frei gewordene Areale der Renaturierung dienen. Das Zukunftspotenzial der halbautomatischen Produktionsmethode der Ulmer Gründer ist groß, wie auch die Erfolge bei Innovationswettbewerben zeigen.
Bei dem vier Quadratmeter großen Aufbau in einer Halle in Elchingen ahnt man nicht, dass hier ein neuartiges Modell für die Landwirtschaft erprobt wird. Nur eine Vision – oder steckt mehr dahinter?
Die Brüder Philip und Sascha Rose aus Ulm treibt ein großer Wunsch um: dem Klimawandel, Artensterben und dem Hungerproblem auf dieser Welt zu begegnen, und das gezielt. Dabei hob sich der Blick schnell nach oben: Vertical Farming heißt die Methode, bei der Pflanzen in übereinander angeordneten Ebenen im geschlossenen Raum kultiviert werden.
Geballtes Einsparpotenzial und hohe Qualität
Vertical Farming gibt es bereits in einigen Ländern als Alternative zur konventionellen Landwirtschaft. „Es lassen sich Flächen um den Faktor 300 einsparen“, erklärt Philip Rose. Urban Farming findet vor allem in dicht besiedelten Regionen großes Interesse. Doch die beiden Brüder sehen ganz andere Potenziale.
Ihre Idee? Pflanzenerzeugnisse kontinuierlich ernten – ohne Wasser zu verschwenden, zu viel Dünger einzusetzen und Pestizide zu verwenden. Und das überall, auch in trockenen Regionen wie Afrika. Möglich macht dies zum einen das automatische Bewässerungssystem: Die frei in der Luft hängenden Pflanzenwurzeln werden mit einer Nährstofflösung besprüht. Die Pflanzen nehmen Nährstoffe aus dem Sprühnebel auf, überschüssiges Wasser wird aufgefangen. Aeroponik nennt sich diese Kreislauf-Methode, die sich extrem ressourcensparend erweist: „Wir können bis zu 95 Prozent Wasser und 70 Prozent Dünger einsparen. Die Nährstofflösung enthält eine speziell abgestimmte Menge an Dünger, für jede Pflanze setzen wir genau das ein, was sie benötigt.“
Der Bioingenieur kennt die entscheidenden Parameter, zu denen neben künstlichem Licht vor allem Temperatur, pH-Wert und elektrische Leitfähigkeit zählen. „Wir ermitteln einen Wertebereich, in dem Pflanzen wachsen und gesunde und schmackhafte Produkte hervorbringen.“ Denn für die Brüder zählt nicht Schnelligkeit pur, sondern vor allem Qualität und Geschmack. „Viele Pflanzen können im identischen System kultiviert werden, etwa Salate, Basilikum, Spinat, Dill und Frühlingszwiebeln.“ Andere Ansprüche stellen beispielsweise Erdbeer- und Kartoffelpflanzen. Auch dafür haben die Zwillingsbrüder eine optimale Nährstofflösung ermittelt – und bereits leckere Früchte geerntet. Die Vorteile dieser Produktionsart sind vielfältig, wie Wirtschaftsingenieur Sascha Rose erklärt: „Die Erzeugnisse sind frischer als Supermarktware, gesund und schmecken prima. Und das ganz ohne Pestizide. Gleichzeitig ist der Ertrag enorm.“ Das interessante Detail von ROKO Farming: halbautomatische, kontinuierliche Produktion auf kleiner Fläche.
Vom einfachen Turm zur kontinuierlichen Produktionsanlage
„Die Landwirtschaft zur Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung kommt unter dem Klimawandel an ihre Grenzen“, erklärt Philip Rose. „Es werden immer größere Maschinen, Flächen und mehr Dünge- und Pflanzenschutzmittel eingesetzt, was hohe Kosten und weltweites Insektensterben verursacht.“ Für die beiden Gründer ist eine Alternative dringend nötig. „Es gibt bereits Methoden, Pflanzen in einer Art Turmbau übereinander zu kultivieren. Doch weder die hohen personellen Ressourcen auf der einen Seite, noch die komplizierte, kostspielige Robotik einiger anderer Ansätze haben uns überzeugt. Uns hat die kontinuierliche Produktion gefehlt.“ So entstand die Idee der beiden Ingenieure, drei Technologien zu kombinieren: Vertical Farming, Aeroponik und Fließbandproduktion.
Das große Tüfteln begann 2019, angestoßen durch die Crowdfunding-Kampagne des Ulmer Innovationswettbewerbs. Die Verfahrens- und Wirtschaftsingenieure planten ihren ersten Prototyp, verlegten Leitungen, bauten das Fließbandsystem und programmierten Schnittstellen. Im geschlossenen Raum wurde das Pflanzenwachstum mit künstlichem Licht optimiert, Werte zu perfekten Umgebungsbedingungen ermittelt. Was im Kleinen funktioniert, muss auch im Großen gelingen: Mit dem Gewinn des Berblinger Innovationspreises 2020 und etwas Eigenkapital konnten die Gründer ihre erste Pilotanlage realisieren: ein Modul auf vier Quadratmetern Grundfläche und 2,5 Metern Höhe. „Damit lassen sich 660 Pflanzen auf einem Rohrsystem auf drei Ebenen bewegen und Erzeugnisse nacheinander ernten – auf einer Fläche, die im konventionellen Pflanzenanbau 1.000 m2 entsprechen würde“, so Philip Rose. Und damit ist kein Ende gesetzt. „Die Module sind vielfältig erweiterbar“.
Halbautomatisch als effizientes System
Das Besondere von ROKO Farming? Neben der kontinuierlichen Produktion nennt der Bioingenieur ein weiteres großes Plus: „Durch die kompakte Anordnung kann eine Arbeitskraft beispielsweise einmal pro Tag Pflanzen an einer gut zugänglichen Stelle des Systems setzen und an einer anderen ernten. Man muss nicht durch stationäre Regalsysteme laufen und das Wachstum jeder Pflanze in Augenschein nehmen.“ Damit spricht er die Automatisierung an: „In unseren Analysen haben wir die Parameter so programmiert, dass immer die gleichen, für jede Pflanze optimalen Bedingungen, herrschen. Dazu zählen die Steuerung des LED-Lichtspektrums, Klimatisierung, Bewässerung und Einstellung der Nährstofflösung.“ So werden die Pflanzen alle 20 Minuten für zwölf Sekunden mit Substratlösung besprüht. Lediglich die Schritte Pflanzeneinsatz und Ernte sind noch nicht automatisiert. Der Knackpunkt einer Vollautomatisierung? „Die Kosten für Roboter und Automatisierung für diese beiden Schritte sind groß. Wir sehen aktuell eine höhere Wirtschaftlichkeit, wenn die Arbeitskraft zu einem bestimmten Tageszeitpunkt einmalig Pflanzen setzt und Erzeugnisse gleichbleibender Qualität erntet.“
Anreize für innovative Landwirte, Gärtner und Märkte
Besonderes Anliegen ist die Renaturierung von Flächen, die sonst als Monokulturen Böden verarmen lassen und Tieren und Pflanzen den Lebensraum nehmen: „Wir möchten aus den gewonnenen Flächen Blumenwiesen und Wälder entstehen lassen.“ Die Brüder stecken einen Teil ihres Gewinns in Renaturierungsprojekte. Es geht um Nachhaltigkeit. „Durch unsere Prozessoptimierung und die speziell eingestellten Parameter ist ein großer Schritt Richtung Energie- und Kosteneffizienz getan. Aktuell stellt der Strompreis von 25 Cent pro kWh in Deutschland noch eine Hürde dar. Lukrativ wäre eine Förderung zur Nutzung von Eigenstrom einer Photovoltaikanlage, bei der man auf einen Preis von 7 bis 8 Cent kommt. Denn ganzheitlich nachhaltig wird unsere Pflanzenproduktion dann, wenn für die LED-Beleuchtung und Klimatisierung ökologisch erzeugter Strom aus Photovoltaik- oder auch Biogas-Anlagen eingesetzt wird.“ Hier wären Anreize aus der Politik für Landwirte wünschenswert, etwa durch Subventionierung von Renaturierungsprojekten und Wegfall der Transportwege durch frische, lokale Produktion.
Aufmerksamkeit bekommt ROKO Farming bereits, nicht zuletzt durch den Sieg des Regional Cup Ulm des Gründungswettbewerbs „Start-up BW Elevator Pitch“, womit sie sich die Teilnahme am Landesfinale sicherten. „Wir suchen nicht nur den Austausch mit Unterstützern, sondern auch mit innovativen Landwirten und Produzenten, um ihnen sowohl eine effiziente als auch nachhaltige Lebensmittelproduktion zu ermöglichen.“ Das Entwicklungspotenzial ist vielfältig, nicht nur hinsichtlich der fast unbegrenzten, ortsunabhängigen Erzeugung verschiedenster Pflanzensorten, sondern auch in der Expansion der Anlage und Einspeisung erneuerbaren Energien. Gerade unter den immer schwierigeren Bedingungen in der Landwirtschaft eine spannende Perspektive.