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Fassadenbegrünung mit Niederschlagsretention

Rain-retaining Living Walls verbessern das Stadtklima und schützen vor Überschwemmungen

Aufgrund der engen Bebauung und der damit einhergehenden Bodenversiegelung werden für Stadtbewohner sowohl Hitze als auch Starkregen immer mehr zum Problem. Forschende der Deutschen Institute für Textil- und Faserforschung (DITF) in Denkendorf haben neuartige Living Walls entwickelt, die nicht nur zur Umgebungskühlung beitragen, sondern dank ihrer Wasserretentionseigenschaften auch einen Überschwemmungsschutz bieten.

Porträtfoto eines freundlich blickenden Mannes mit dunkler Brille, weißem Hemd und dunklem Jackett.
Christoph Riethmüller und sein Team von den Deutschen Instituten für Textil- und Faserforschung (DITF) entwickeln begrünte Wände, die mit Hilfe textiler Speicherstrukturen große Mengen an Niederschlägen aufnehmen und so Überschwemmungen vorbeugen können. © DITF

Seit einigen Jahren nimmt in Deutschland der Trend zur Suburbanisierung zu; Menschen aus Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern ziehen verstärkt ins Umland.1) Dies gilt vor allem für Familien, die in städtischen Gebieten keinen adäquaten und bezahlbaren Wohnraum finden. Zudem werden aufgrund des Klimawandels die Lebensbedingungen in Innenstädten immer unangenehmer: Die Temperaturen steigen, und Unwetter mit Starkregen bringen häufig die Kanalisation an ihre Grenzen. Bei der Schaffung neuer Wohnungen muss diese Problematik deshalb zwingend berücksichtigt werden. „Bisher fehlen technische Lösungen für eine soziale und qualitativ gute Nachverdichtung“, erläutert Christoph Riethmüller von den Deutschen Instituten für Textil- und Faserforschung (DITF) in Denkendorf. „Wohnraum muss bezahlbar, aber auch lebenswert sein. Wir sehen unsere Living Walls als wesentlichen Enabler für eine gelungene Nachverdichtung.“

Living Walls verhindern Heat Islands

Im Projekt „Rain-retaining Living Walls als Enabler der Nachverdichtung durch aktives Management des Oberflächenwassers und quantifizierbarem Grünwert als Ausgleichsfläche (IGF 21118 N)“ haben Riethmüller und sein Team vom Technologiezentrum Smart Living Textiles zusammen mit dem Zentrum für Management Research der DITF die Grundlagen für weitgehend autonom arbeitende Wandbegrünungssysteme erarbeitet. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie [Anm. d. Red.: heute: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz] im Zeitraum vom 01.06.2020 bis zum 31.05.2022 im Rahmen der industriellen Gemeinschaftsforschung (iGF) gefördert, die eine Brücke zwischen Grundlagenforschung und wirtschaftlicher Anwendung schlägt. „Wir haben einen Demonstrator konstruiert, der als Basis für nachfolgende Produktentwicklungen dienen kann“, führt der Ingenieur aus. „Die Städte müssen grüner werden. Neben einer besseren Aufenthaltsqualität wollen wir vor allem Ausgleichsflächen schaffen, die die Bildung von Hitzeinseln verringern.“ Diese sogenannten Urban Heat Islands (UHI) entstehen bei sommerlichen Temperaturen in Bereichen mit hoher Bodenversiegelung und vielen Betonbauten. Anstatt das Sonnenlicht zu reflektieren, absorbieren die Materialien die Energie, heizen sich auf und speichern die Wärme. „An den Fassaden gibt es viel Potenzial. Der Bewuchs mit Pflanzen verbessert einerseits die Reflexionseigenschaften und hat andererseits durch Photosynthese und die Abgabe von Wasser einen kühlenden Effekt.“

Retentionsfähige textile Strukturen als Grundlage

Zeichnerische Darstellung der Seitenansicht einer Living Wall mit textilen Substratelementen, Speicherstrukturen und hydraulischen Textilien.
Schematische Darstellung des Aufbaus der Rain-retaining Living Wall. © DITF

Im Gegensatz zu anderen Begrünungssystemen sollen die an den DITF entwickelten Living Walls an Hausdächer oder benachbarte Zisternen angeschlossen und vorwiegend mit Regenwasser versorgt werden. Dies ist Voraussetzung für eine weitere wichtige Eigenschaft: die Niederschlagsretention. Denn bei Starkregen ist das zumeist veraltete Kanalisationsnetz in Städten schnell überfordert. „In Neubaugebieten kann man durch den Einsatz von Regenrückhaltebecken oder Versicherungstanks die Niederschlagsmengen steuern, die in die Kanalisation gelangen. Das ist beim Bauen im Bestand nicht immer möglich. Wir haben unseren Schwerpunkt deshalb auf retentionsfähige (also Rain-retaining) Living Walls gesetzt.“

Umgesetzt wird diese Funktion mit Hilfe textiler Speicherstrukturen. Die Pflanzen wachsen wie in der Hydroponik (dem Anbau ohne Erde) üblich auf Steinwolle, einem Substrat aus mineralischen Fasern. Das Material ist leicht, kann wie ein Schwamm Wasser aufsaugen und ermöglicht aufgrund der Porengröße eine ideale Wurzelbildung sowie einen guten Luftaustausch. Die Living Walls enthalten mehrere über- und nebeneinander angebrachte Blöcke aus Steinwolle der Größe 10 x 10 x 6,5 cm, in die zusätzlich sensorische Garne eingebracht wurden, die den Wassergehalt messen. Gesteuert über textile Trennstrukturen werden die Blöcke von oben beginnend bis zu einem vorgegebenen Prozentsatz mit Wasser gefüllt. Erst wenn der obere Block den Schwellenwert erreicht hat, wird der darunterliegende befüllt. So lässt sich das Wasser gleichmäßig über die Living Wall verteilen, ohne dass diese oben austrocknet und unten überläuft. Bei identischen Verhältnissen wird das Wasser in jedem Block somit gleichermaßen verbraucht.

Hydraulische Trennstrukturen regulieren Wasseraufnahme

Fotografie einer bewachsenen Wand mit seitlich sichtbaren Substratblöcken sowie hydraulischen Elementen.
Demonstrator in Denkendorf. Die Pflanzen wachsen auf Blöcken aus Steinwolle (10 x 10 x 6,5 cm), die mit hydraulischen Trennstrukturen ausgestattet sind. © DITF

Basierend auf diesen Vorarbeiten wurden im Rahmen des Projekts neuartige hydraulische Trennstrukturen entwickelt. Durch Befüllen mit Wasser lassen sich diese aktivieren, woraufhin sich die Steinwollblöcke bis auf fünf Prozent Wassergehalt entleeren. Geschieht das rechtzeitig vor einem Starkregenereignis, kann quasi die ganze Aufnahmekapazität der Living Walls genutzt werden, um Niederschlag zu speichern, sodass dieser gar nicht oder nur zeitverzögert in die Kanalisation gelangt. Riethmüller schildert: „Mit einem Vorlauf von etwa 45 min. können wir den größten Teil des Wassers aus der Wand entfernen und diese als Speicher zur Verfügung stellen. Das ist der entscheidende Unterschied zu klassischen Substraten. Die hydraulischen Textilien lassen sich mit der Gebäudesteuerung koppeln und werden dann anhand der aus dem Internet bezogenen Wettervorhersage aktiviert.“

Im Vergleich zu beispielsweise Rasenflächen oder Flachdächern haben die Rain-retaining Living Walls eine höhere Kapazität. Starkregen bedeutet zumeist Niederschlagsmengen zwischen 15 und 25 l pro m2 innerhalb einer Stunde oder 20 und 35 l pro m2 in sechs Stunden. Gängige Rasenflächen können davon etwa 50 Prozent aufnehmen. Die Kapazität von Flachdächern hängt stark davon ab, ob und in welcher Art und Weise sie begrünt sind und variiert deshalb zwischen 10 und 100 l pro m2. Das neuartige Living Wall-System mit einer Substratdicke von 6,5 cm kann bis zu 60 l Niederschlag pro m2 aufnehmen.

Zur Begrünung der Living Walls nutzten die Forschenden gängige regionale Pflanzen. Vor allem Stauden sind gut geeignet, da sie nicht verholzen. Ein weiterer Aspekt des Projekts war die Untersuchung der Kühlleistung, also der Transpirationsrate unterschiedlicher Pflanzen­typen. Einige geben mehr als 80 Prozent des aufgenommenen Wassers wieder an die Umgebung ab. Des Weiteren wurden in einem Bereich zusätzliche textile Wassersprüher in die Wände eingefügt, die Feuchtigkeit verteilen und durch die entstehende Verdunstungskälte zur Kühlung benachbarter Regionen beitragen. Um die Living Walls mit anderen Grünflächen in der Stadt vergleichen zu können, wurde außerdem ein „Grünwert“-Vorschlag erstellt, der die Wirkung der Fassadenbegrünung bewertet.

Prinzipiell lassen sich die Rain-retaining Living Walls überall und vor allem auch nachträglich montieren. Neben dem Kühleffekt und der Wasserretention verbessern sie zusätzlich die Luftqualität und bieten Insekten einen Lebensraum – alles bei relativ geringem Pflegeaufwand. Zusammen mit Unternehmen sind erste Folgeprojekte für konkrete Produktentwicklungen bereits gestartet, damit die Rain-retaining Living Walls so schnell wie möglich helfen können, den Auswirkungen des Klimawandels in den Innenstädten entgegenzuwirken.

Publikation:

1) Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung: "Wanderungsverluste der Städte erreichen das hohe Niveau der 1990er Jahre". Pressemitteilung 2022. https://www.bib.bund.de/DE/Presse/Mitteilungen/2022/2022-12-05-Wanderungsverluste-der-Staedte-erreichen-das-hohe-Niveau-der-1990er-Jahre.html (abgerufen am 26.10.23).

Seiten-Adresse: https://www.biooekonomie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/rain-retaining-living-walls-verbessern-das-stadtklima-und-schuetzen-vor-ueberschwemmungen