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Robotisches Bauen mit Naturfasern
Eine der größten Herausforderungen im derzeitigen Bauwesen ist die Umstellung auf umwelt- und ressourcenschonendere Bauformen. Forschende der Universität Stuttgart kombinieren deshalb modernste robotische Faserwickeltechnologien mit uralten regionalen Kulturpflanzen und stellen so stabile und nachhaltige Leichtbaustrukturen aus Flachsfasern her.
Die Errichtung und der Betrieb von Gebäuden verursachen 40 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen und sind deshalb Hauptangriffspunkt beim Kampf gegen den Klimawandel. Während der Anteil erneuerbarer Energien bei der Strom- und Wärmeerzeugung seit Jahrzehnten wächst und so schon jetzt zur Reduktion von Treibhausgasen beiträgt, steckt umweltschonendes Bauen noch in den Kinderschuhen. Allein das Brennen von Kalkstein (CaCO3) während der Zementproduktion setzt jährlich 6 bis 8 Prozent der gesamten CO2-Menge frei. „Dies ist prozessbedingt und lässt sich nicht verhindern. Wir müssen deshalb Beton durch biobasierte Werkstoffe ersetzen, wo immer dies möglich ist“, erläutert Prof. Dr. Jan Knippers vom Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart.
Flachs als alternativer Baustoff
Im Bauwesen fällt der erste Gedanke dabei sofort auf Holz, das bereits häufig im Geschoss- oder Innenausbau verwendet wird. Innovative Leuchtturmprojekte in diesem Bereich fördert das Land Baden-Württemberg seit 2014 in unterschiedlichen Programmen. Holz hat aber den großen Nachteil, dass es extrem lange Wachstumszyklen besitzt und zudem durch Brände oder den Befall von Schädlingen unbrauchbar werden kann. „Es ist also notwendig, über alternative biobasierte Baustoffe nachzudenken. Diese sollten jährliche Wachstumszyklen haben, nicht in Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion stehen und regional verfügbar sein“, zählt Knippers die Kriterien auf. „Hier bieten sich Flachs- oder Hanffasern an.“
Flachs, auch Gemeiner Lein genannt, ist eine der ältesten Kulturpflanzen des Menschen und wird zur Faser- oder Ölgewinnung genutzt. Bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. stellten die Ägypter hieraus Leinenstoffe her. Im Zuge der Industrialisierung verdrängte dann Baumwolle den Flachs, da sich diese leichter maschinell verarbeiten lässt. Seit einigen Jahren werden Leinenstoffe allerdings wieder vermehrt eingesetzt, unter anderem auch von der Automobilindustrie, da das Material nicht nur gut riecht und sich angenehm anfühlt, sondern auch sehr robust, schmutzabweisend sowie feuchtigkeits- und temperaturregulierend ist. Der Anbau von Flachs ist relativ unkompliziert: Die einjährige Pflanze stellt keine besonderen Ansprüche an den Boden, benötigt deutlich weniger Wasser als Baumwolle und lässt sich gut ohne den Einsatz von Pestiziden in biologischer Qualität kultivieren.
Grundstruktur aus robotisch gewickelten Fasern
In den letzten zehn Jahren entwickelte das Team von Knippers gemeinsam mit der Gruppe von Prof. Achim Menges vom Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) der Universität Stuttgart eine robotische Faserwickeltechnologie, bei der Carbon- oder Glasfasern gezielt so orientiert und nur in der Menge eingesetzt werden, wie es für eine optimale Lastabtragung nötig ist. In Anlehnung an Grundgerüste von Pflanzen lassen sich auf diese Weise kernlose, filigrane Leichtbaustrukturen generieren. Da weder Abfall noch Verschnitt anfallen, ist der Produktionsprozess sehr effizient. Ein nach dieser Methode gefertigter Pavillon wurde auf der Bundesgartenschau 2019 in Heilbronn präsentiert.
Im Rahmen des im selben Jahr gegründeten und von der DFG geförderten Exzellenzclusters Integrative Computational Design and Construction for Architecture (IntCDC) mit Menges und Knippers als Sprecher und Co-Sprecher übertrugen die Forschenden die Faserwickeltechnologie auf Flachsfasern. Unterstützt wurden sie dabei von Studierenden des internationalen und interdisziplinären Masterstudiengangs Integrative Technologies and Architectural Design Research (ITECH) der Universität Stuttgart. Hier setzen in jedem Jahrgang Studierende aus aller Welt und unterschiedlichen Fachrichtungen, wie z. B. Architektur, Bauingenieurwesen und Materialwissenschaften, zusammen ein Projekt um. Knippers erklärt: „Dieses offene Konzept ist für die deutsche Bildungslandschaft eher ungewöhnlich, bietet aber großes Potenzial. Im geschützten Raum der Lehre entstehen in der Zusammenarbeit mit den Studierenden große Synergien, die innovative Ideen hervorbringen. Die Lehre ist deshalb ein wichtiger Bestandteil unserer Tätigkeit.“
Die Umstellung auf Flachsfasern erforderte einige Veränderungen im Wickelprozess. Im Gegensatz zu den endlos gezogenen synthetischen Fasern besteht ein Naturfaser-Roving (Vorgarn) aus vielen einzelnen kurzen Stücken, die parallel im Verbund angeordnet sind. Damit diese beim Verarbeiten nicht auseinandergezogen werden und der Roving nicht reißt, mussten einerseits die Zugkräfte angepasst, andererseits eine geflochtene Kordel zur Stabilisierung eingearbeitet werden. Vor der Wicklung auf den formgebenden Rahmen laufen die Rovings durch ein Bad aus Epoxidharz, nach dem Aushärten im Ofen besitzen die gewickelten Elemente dann eine sehr hohe Stabilität. „Wir können mit diesem Verfahren sehr leistungsfähige, weitspannende und stark beanspruchbare Strukturen herstellen und sind dabei deutlich leichter als mit der Betonbauweise“, schwärmt der Ingenieur. „Bei identischer Tragfähigkeit besitzen unsere Elemente nur 1/25 des Gewichts und haben einen deutlich geringeren Materialverbrauch."
livMatS Pavillon in Freiburg
Schon seit vielen Jahren pflegen Menges und Knippers eine inspirierende Kooperation mit der Gruppe von Prof. Dr. Thomas Speck, dem Direktor des Botanischen Gartens der Universität Freiburg und Mitglied des Sprecherteams des dortigen Exzellenzclusters Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS). Aus der Zusammenarbeit der beiden Cluster entstand 2021 der livMatS Pavillon als konkretes Anschauungsobjekt für die Kombination von digitaler Technologie mit biobasierten Materialien. Seine tragende Struktur besteht ausschließlich aus robotisch gewickelten Flachsfasern. Im Rahmen eines ITECH-Projekts entwickelten die Studierenden in Stuttgart die Prototypen der Grundelemente, die endgültige Fertigung und Errichtung des Pavillons im Botanischen Garten in Freiburg übernahm die FibR GmbH. Zum Schutz vor Umwelteinflüssen ist er mit einer wasserdichten Haut aus Polycarbonat überzogen. Durch regelmäßige Probennahme soll das Material während der nächsten fünf Jahre auf Witterungs- und UV-Beständigkeit überprüft werden. Knippers erläutert: „Die Tragfähigkeit der Faserstrukturen ist überzeugend nachgewiesen, die eigentlichen Forschungsfragen beziehen sich auf Dauerhaftigkeit und Brandbeständigkeit. Nur wenn diese beantwortet sind, ist der Transfer in die Baupraxis machbar.“
Faserwickeltechnologie für den nachhaltigen Geschossbau
Für die Architektur-Biennale 2021 in Venedig fertigte das Team des IntCDC-Exzellenzclusters in Zusammenarbeit mit der FibR GmbH ein begehbares, mehrgeschossiges Objekt aus Carbon- und Glasfasern an, die Maison Fibre. In ähnlicher Bauweise ist für die Landesgartenschau 2023 in Wangen ein geschlossener Pavillon unter Verwendung von Flachsfasern geplant. „Wir wollen zeigen, dass unsere Faserwickeltechnologie die Anforderungen des Wohnungsbaus erfüllt. Unsere langfristige Vision ist eine Vor-Ort-Fertigung direkt auf der Baustelle ohne Lärm und Schadstoffemission“, beschreibt Knippers die Zukunftspläne. „Neben Flachs eignen sich hierfür auch Fasern aus Hanf oder in anderen Regionen der Welt Sisal und Kokos.“