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Pflanzenreststoffe

Strohzellstoff: Aus landwirtschaftlichen Resten wird Hygienepapier

Zu Gold spinnen kann man Stroh zwar noch nicht, dafür macht man in Mannheim etwas anderes, äußerst Wertvolles daraus: Essity ist das erste und einzige Unternehmen in Europa, das dort Toilettenpapier und Küchenrollen aus Weizenstroh in einer neuen Zellstofffabrik herstellen kann. Vom kommenden Jahr an sollen diese nachhaltigen Hygieneprodukte in den Supermarktregalen zu finden sein.

Nicht erst seit der Corona-Pandemie wissen wir, welch große Rolle Papier für die tägliche Hygiene spielt: Jeder von uns verbraucht durchschnittlich pro Jahr fast 20 kg davon. Der Anteil an Altpapier in Toilettenpapier, Küchentüchern, Papiertaschentücher oder Servietten ist mit etwa 50 Prozent relativ groß. Die andere Hälfte besteht aus Frischholzfasern, die je nach Unternehmen aus dem Ausland bezogen werden.

Suche nach alternativen Fasern führt in die USA

Der Fabrikleiter am Mikrofon bei der Einweihung der Fabrik.
Dr. Martin Wiens ist Leiter der im Herbst 2021 in Betrieb genommenen Strohzellstoff-Fabrik in Mannheim. © Essity/Tröster

Am Standort Mannheim des schwedischen Hygiene- und Gesundheitsunternehmens Essity hat man sich jetzt nach weiteren Möglichkeiten umgesehen. „Essity setzt heute schon ausschließlich nachhaltige Fasern ein, entweder Recyclingfasern oder zertifizierte Frischholzfasern aus nachhaltiger Forstwirtschaft. Darüber hinaus suchen wir ständig nach Alternativen, um unseren ökologischen Fußabdruck weiter zu verbessern. Dabei sind wir über eine kleine amerikanische Firma gestolpert, Sustainable Fiber Technologies SFT, die ein Verfahren zur Herstellung von Zellstoff aus Weizenstroh entwickelt hatte“, berichtet Dr. Martin Wiens, Leiter der Strohzellstoff-Fabrik. „Das war ein völlig neues Konzept, das bei uns natürlich erst einmal ausführlich diskutiert werden musste. Immerhin steckt in einer solchen Innovation eine ganze Menge unternehmerisches Risiko. Wir sind aber absolut von dem neuen Verfahren überzeugt und haben deshalb eine Lizenz abgeschlossen, die uns die exklusiven Nutzungsrechte für Europa sichert – ein großer Vorteil gegenüber unseren Wettbewerbern.“ Ein weiteres Plus des Verfahrens: Es benötigt weniger Wasser und Energie als die herkömmliche Zellstoffproduktion.

Seither wird in Mannheim, an Essitys größtem europäischen Produktionsstandort, viel geplant, gebaut, getüftelt und entwickelt. Bereits 1884 als Zellstofffabrik Waldhof gegründet, kann das Traditionsunternehmen auf einen großen Erfahrungsschatz in der Zellstoffproduktion zurückgreifen. Aktuell werden hier 283.000 t Zellstoff aus zertifizierten Frischholzfasern und Holzresten hergestellt und zu Taschen-, Haushalts- und Papierhandtüchern sowie Toilettenpapier und Servietten verarbeitet. Seit Oktober 2021 kommen zusätzlich auch noch 35.000 t Strohzellstoff dazu.

Neuartiger Zellstoff aus Weizenstroh als drittes Standbein

Übersichtsbild der kompletten Anlage mit Strohlager und den einzelnen Produktionseinheiten.
Luftaufnahme der Strohzellstoff-Fabrik. © Essity/Geiger

Im neuen „Werk im Werk“, für das das Unternehmen 40 Mio. Euro investiert hat, werden auf 8.000 m2 Anlagenfläche rund 70.000 t Weizenstroh zu einem neuartigen Zellstoff verarbeitet, der genauso weich, reißfest und saugstark sein soll, wie wir es von den herkömmlichen Produkten kennen. „Diese komplett neue Faserquelle ist ein drittes Standbein, neben klassischem Tissue- und Recyclingpapier. Damit sind wir sehr flexibel“, erklärt Wiens. „Von vornherein war die Vorgabe für uns, dass Kundinnen und Kunden keinen qualitativen Unterschied zwischen herkömmlichem Hygienepapier und dem Papier mit Strohanteil merken sollen.“

Der Rohstoff für das neuartige Ökopapier stammt von Landwirten aus der Region: „Stroh ist ein Restprodukt, das nach der Getreideernte übrig bleibt. Nur das Weizenkorn wird zur Herstellung von Lebensmitteln genutzt, eine große Menge Strohhalme bleibt ungenutzt“, sagt der Experte. „Durch deren Verwendung können wir den Zukauf von holzbasiertem Zellstoff aus dem Ausland verringern, sodass Transportwege kürzer werden und der CO2-Ausstoß sinkt. Insgesamt hat Zellstoff aus Stroh einen um mindestens 20 Prozent geringeren ökologischen Fußabdruck als aus Holz- oder Recyclingfasern.“

Aus Getreideabfall entsteht Hygienepapier, wie wir es gewohnt sind

Ein weiterer Pluspunkt: Die Strohballen für Essity sind eine neue, verlässliche Einnahmequelle für die Landwirte: Nach der Getreideernte werden die Halme zwischen Ähre und Bodenrest geschnitten und zu Ballen gepresst. „Allerdings war es erst gar nicht so einfach, an große Strohmengen zu kommen, da es bei uns in Deutschland noch keinen wirklichen Strohmarkt gibt“, so Wiens. „Das Stroh wird nur ganz eng lokal gehandelt. Einkaufsnetzwerke existieren bisher nicht. Diese müssen erst aufgebaut werden. Eine externe Firma erledigt das für uns und organisiert den Einkauf. Unsere tägliche Versorgung muss sichergestellt werden, denn Stroh wird nur einmal pro Jahr geerntet, muss uns aber das ganze Jahr über zur Verfügung stehen.“

Gigantisches Förderbandsystem aus Metall in blau. gelb, silber
Über ein riesiges Stroh-Förderband gelangen die Ballen direkt vom Lagerplatz in die Produktion. © Essity/Tröster

Deshalb gehört zur neuen Anlage auch ein 10.000 m2 großes Strohlager, von wo aus die schweren Ballen über ein Förderband direkt in die Zellstoffproduktion transportiert werden. „Hier findet ein schneller Umschlag statt. Die Ballen lagern maximal fünf Tage. Deshalb macht es nichts, wenn sie bei der Lagerung dem Regen ausgesetzt sind“, berichtet Wiens. Bereits auf dem Förderband werden die Ballen entdrahtet, von Schmutz gereinigt und sortiert. Auf dem Weg zum neuen Zellstoff werden die Strohhalme zuerst gekocht, wobei die Zellstofffasern aus den Strohhalmen herausgelöst werden. Anschließend werden die Fasern in einem weiteren Schritt aufgehellt. „Man könnte zwar den typischen gelblichen Farbton von Stroh durchaus auch so belassen, aber die Kunden sind weiße Hygienepapierprodukte gewöhnt, deshalb bleiben wir erst einmal dabei“, sagt Wiens. „Gebleicht wird komplett chlorfrei. Mit Peroxid ähnlich wie beim Haare färben.“

Anschließend wird der weiße Zellstoff gereinigt. Dieser Vorgang findet in einem zur neuen Fabrikhalle umfunktionierten historischen Gebäude statt, das früher als Ersatzteillager genutzt wurde. Danach wird der fertige Zellstoff im Zellstofflagerturm zwischen gespeichert und kann in flüssiger Form über die mehr als 1 km lange Zufuhrleitung direkt zu den Papiermaschinen gepumpt werden.

Die Verpackung entsteht gleich auch noch dazu

Ein dickes, graues Zellstoff-Rohr.
Über eine mehr als 1 km lange Rohrleitung gelangt der flüssige Zellstoff zu den Papiermaschinen. © Essity/Tröster

Als Nebenprodukt fällt unter anderem Lignin an. Das wertvolle Biopolymer wird natürlich nicht mit dem Abfall entsorgt, sondern konzentriert und soll später als Rohstoff in andere Industriezweige geliefert werden. So kann es beispielsweise als Gerbstoff für Lederwaren oder als Bindemittel für Futter und Baustoffe zum Einsatz kommen. Außerdem kann es beigemischt zur Herstellung einer gelblichen Kunststofffolie dienen. „Eine Idee ist, diese Folie künftig einmal als Verpackung für unser Hygienepapier zu verwenden“, so der Leiter der Strohfabrik. „Zwar nicht gleich morgen, aber erste Versuche zeigen, dass dies möglich wäre.“

Die Akzeptanz der neuartigen Produkte bei Testkonsumenten war groß: „Natürlich lassen wir uns nicht auf solch ein Riesenprojekt ein, ohne vorherige Konsumentenumfrage“, berichtet Wiens. „Die Resonanz auf die Produkte von unserer Testanlage war extrem gut, vor allem auch, was die Geschichte angeht, die wir zu erzählen haben: vom Abfallstoff aus der Getreideherstellung zum Alltagsprodukt.“

Zukünftig auch andere nachwachsende Quellen nutzen

Im Jahr 2022 sollen die neuartigen Hygienepapiere auf den Markt kommen. Derzeit ist man dabei, die Marketingstrategie zu erarbeiten. Parallel hat die Strohzellstoff-Fabrik den Betrieb aufgenommen.

Grundsätzlich könne das Verfahren an alle Einjahrespflanzen angepasst werden, sagt Wiens. Man habe nur mit Weizenstroh begonnen, da mit rund 11 Mio. t pro Jahr das Angebot hier in Deutschland am größten sei. Zukünftig kann man aber auch andere Getreidesorten einbeziehen.

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