Hauptnavigation
Vom Wegwerf- zum Kreislaufprodukt – Stuttgarter Start-up stellt gesunde Snacks her
Lebensmittel wegwerfen? Das Stuttgarter Start-up Zero Bullshit Company sagt der Lebensmittelverschwendung den Kampf an und stellt nährstoffreiche Produkte her, die zum Großteil aus Überbleibseln der Lebensmittelindustrie stammen. Mit ihrer transparenten Marke wollen drei Lebensmitteltechnologen mehr als nur leckere, nährstoffreiche Produkte entwickeln.
Jedes Jahr landen laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft BMEL1 in Deutschland 12 Mio. Tonnen Lebensmittel im Müll statt im Magen; pro Kopf entspricht das 150 kg. Was zunächst nicht offenkundig ist: Bereits bei der industriellen Verarbeitung werden wertvolle Lebensmittel verschwendet – rund 2,2 Mio. Tonnen. Dass Nebenproduktströme der Lebensmittelproduktion alles andere als Abfall sind, hat Sandra Ebert, Doktorandin an der Universität Hohenheim, längst erkannt. „Bei der Herstellung von Lebensmitteln bleiben jährlich rund 60 Prozent der Rohstoffe für den menschlichen Verzehr ungenutzt. Dabei sind gerade Trester aus der Saft- und Ölproduktion extrem reich an wertvollen Nährstoffen.“
Nachhaltige Nährstoffbombe
Schon während ihres Studiums beschäftigen sich die Lebensmitteltechnologinnen Sandra Ebert, Lisa Berger und ihr Kommilitone Pascal Moll neben biochemischen und analytischen Methoden auch mit verarbeitenden Technologien. Im Rahmen eines europäischen Innovationsprojekts wurden sie 2018 zusammen mit Studierenden anderer Hochschulen für die EIT2 Food Solutions Master Class in Helsinki, Tel Aviv und Madrid ausgewählt. „Es ging dabei um Lösungen im Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung, denn ein Drittel aller weltweit produzierten Lebensmittel werden nicht verzehrt.“ Der Gedanke der Hohenheimer Lebensmitteltechnologen zur Verwertung von Trester ist ebenso simpel wie genial: „Bei Trester handelt es sich um Pressrückstande, die beispielsweise beim Keltern von Äpfeln oder der Pflanzenölproduktion aus Ölsaaten wie Kürbis- und Sonnenblumenkernen entstehen. Da Trester mit ihren hohen Gehalten an Proteinen, Antioxidantien, Vitaminen sowie Mineral- und Ballaststoffen wahre Nährstoffbomben sind, entstand die Idee, diese zu nutzen.“ Und das gleich doppelt: Denn neben dem ernährungsphysiologischen Nutzen für den Verbraucher hat die ressourcenschonende Verwertung auch einen nachhaltigen Aspekt. Dieses Potenzial hat auch EIT Food erkannt und das Projekt mit dem Innovationspreis ausgezeichnet.
Lösung erkannt, Idee ausgezeichnet – und wie weiter?
Es ging aber nicht nur um die Entwicklung des Produkts, sondern auch um einen Businessplan und eine Marketingstrategie. „Erste Impulse dazu hatten wir durch das Innovationsprojekt erhalten. Doch wir mussten hier gezielt anknüpfen“, erklärt Ebert die Herausforderungen bei Gründungen. „Hier hat uns das Mentoren-Netzwerk der Stuttgarter Gründermotor Meisterklasse #1 unterstützt. Denn als Lebensmitteltechnologen sind wir produktorientiert, im Business-Bereich hatten wir kaum Know-how.“
Derart angestoßen konnte die Idee der drei Doktoranden weiter Gestalt annehmen. Zunächst als Bottleneck, wie Ebert erklärt: „Wir haben mit Kürbiskern- und Sonnenblumenkern-Trester sowie Apfelfasern erste Rezepturen entwickelt und gebacken. Dabei ist „Zero Bullshit“ entstanden, der unserem Start-up bei Gründung Anfang 2020 den Namen Zero Bullshit Company verlieh. Unseren ersten Prototypen, eine Art dreieckiges Nacho, haben wir zunächst in einer Schwarzwälder Bäckerei hergestellt: Teig geknetet, ausgerollt, gebacken – mit einer Ausbeute von 2 kg am Tag. Skalierbar war das nicht."
Next Step Großproduktion: Fündig wurde das Gründerteam bei einem zertifizierten Prozesshersteller am Untermain, für den der Teig zunächst angepasst wurde. Die Zutaten? Der gemahlene, getrocknete und somit gut lagerfähige Trester macht über 50 Prozent aus: Der Kürbiskerntrester stammt aus einer Ölmühle in der Steiermark, das Sonnenblumenprotein aus Süddeutschland, die Apfelfaser aus Baden-Württemberg. Der Rest ist Maisgrieß, benötigt für den puffigen Effekt des protein- und ballaststoffhaltigen Grundteigs. „Maisgrieß ist wie alle anderen Zutaten allergiearm und unterstützt im Extrusionsverfahren den Effekt des Aufgehens wie bei Erdnussflips.“ Das Prinzip: Die Grundsubstanzen werden mit Wasser vermengt, zu einem Teig geknetet und dieser durch einen Behälter unter Druck und hoher Temperatur gepresst. „Sobald der Rohling aus der Düse austritt und der Druck weg ist, verdampft das Wasser. So erhält man eine puffige Struktur und poröse Oberfläche“, erklärt Ebert. Durch ein Schneidwerkzeug werden einzelne Formen erhalten, ca. 200 kg pro Stunde. Dass es sich hier um ganz andere Dimensionen handelt, zeigt auch die Anlage, die zusammen mit der Trocknereinheit fast schon Wohnzimmergröße erreicht.
Mit Hürdensprüngen zum Retter-Kräcker
„Wir lernen jeden Tag Neues“, beschreibt Ebert die Herausforderungen, die neben Produktentwicklung, Finanzierungs- und Geschäftsstrategien auch die Vermarktung ist. Die Verpackung soll das BIO-Logo enthalten. „Bioprodukte entsprechen dem Zeitgeist, und unsere Inhaltsstoffe sind Biozutaten.“ Der Knackpunkt: Ohne Zertifizierung darf ein Produkt das BIO-Logo nicht enthalten. „Deshalb haben wir Geld in die Hand genommen, um die gesamte Wertschöpfungskette entsprechend zertifizieren zu lassen: alle Rohstoffe, Verarbeiter und Lieferanten, Hersteller, wir als Unternehmer, jede einzelne Produktart, Logistiker und das Lager.“
Es lohnt sich: Das erste Produkt, der Retter-Kräcker, ist neben dem eigenen Online-Shop von Zero Bullshit Company auch bereits in ersten Rewe-Märkten Süddeutschlands erhältlich. Beim Snack für die Aktentasche, mit 200 Kcal eine ideale Zwischenmahlzeit, wurde auch bei der Verpackung der nachhaltige Aspekt nicht außer Acht gelassen. „Lebensmittel mit Wassergehalt müssen luft- und lichtdicht verpackt sein. Hier hilft nur Plastik“, erläutert Ebert das Dilemma. „Als bestmögliche Lösung haben wir uns für eine recyclingoptimierte Folie entschieden. Gleichzeitig beobachten wir den Zukunftsmarkt der biobasierten Kunststoffe und sind hier immer lösungsorientiert.“
Der ökologische Aspekt findet auch beim Herstellungsprozess Beachtung: „Der energetische Verbrauch für die Bereitstellung hoher Drücke und Temperaturen ist vergleichsweise gering, da im Extrusionsverfahren in kurzer Zeit sehr viel Produkt hergestellt wird. Zudem werden keine Lösungsmittel oder weiteren Zusätze eingesetzt. Als proteinreicher Fleischersatz lässt sich auch der CO2-Aspekt angehen, indem der Umweg über das Tier umgangen wird“, so die Lebensmitteltechnologin.
Benchmark auf dem Snack-Markt
Der Retter-Kräcker soll nicht das einzige Produkt bleiben. Ebert erklärt das Alleinstellungsmerkmal der Zero Bullshit Company: „Mit unserer Expertise können wir viele wertvolle Seitenströme aus diversen Herstellungsprozessen nutzen und durch unsere Konzepte dem Stoffkreislauf als Lebensmittel wieder zuführen.“
Zero Bullshit Company möchte die Marke werden, die man kennt, um Lebensmittel zu retten. „Ob Nebenprodukte aus der Saftproduktion (jeder Deutsche trinkt durchschnittlich 30 Liter Apfelsaft pro Jahr), der Bierherstellung oder anderem: Wir möchten möglichst viele ungenutzte Ressourcen verwenden, anstatt auf immer mehr Rohstoffe mit bekannten problematischen Folgen zurückzugreifen. Vorstellbar sind verschiedene Produkte von Müsli bis hin zu Verpackungslösungen aus Nebenströmen.“ Die Crux dabei: Jede neue Produktentwicklung kostet Geld. Deshalb fokussiert sich das Start-up zunächst auf den Vertrieb des Retter-Kräckers in Lebensmittel- und Biomärkten. „Wir freuen uns auf jede Anfrage zu Kooperation, Unterstützung oder weitere Märkte, die unseren Retter-Kräcker listen wollen, vor allem auch regionale“, so Ebert. „Kontinuierliche Förderinitiativen und Food-Angels liefern einen entscheidenden Push für Start-ups. Dabei geht es nicht zwingend um Venture Capital, sondern um Expertise und Netzwerk, z. B. aus Vertriebspartnern.“
Zero Bullshit Company ist auch auf Food-Messen vertreten und kooperiert mit anderen Unternehmen, die Strategien gegen Lebensmittelverschwendung verfolgen – der Lösungsansatz findet immer mehr Beachtung. „Uns ist auch wichtig, ein Bewusstsein für Ernährungsthemen zu schaffen“, erklärt Ebert ihr Engagement. „Nicht nur für unsere Produkte, sondern zu Möglichkeiten einer gesunden und nachhaltigen Lebensmittelversorgung.“
Literatur
1) Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, https://www.bmel.de/DE/themen/ernaehrung/lebensmittelverschwendung/studie-lebensmittelabfaelle-deutschland.html
2) Europäisches Institut für Innovation und Technologie, eine Gründung der EU mit dem Ziel, die Innovationsfähigkeit in Europa durch Zusammenarbeit der leistungsfähigsten Institute, Universitäten und industriellen Forschungszentren zu stärken. Es ist ein integraler Bestandteil des EU-Förderprogramms Horizont 2020.