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Wertstoffe aller Art – automatisiert produziert in lebenden Zellen
Mithilfe von Algen könnte man zukünftig praktisch alles herstellen, für das bisher noch Erdöl benötigt wird – etwa Kunst- und Treibstoffe, Arznei- oder Lebensmittel. Außerdem sind sie auch noch Klimaretter par excellence, denn sie binden zehnmal mehr CO2 als Landpflanzen. Das Esslinger Unternehmen Festo hat nun einen Hightech-Bioreaktor entwickelt, mit dem man die kleinen grünen Biofabriken automatisiert kultivieren kann – und dies hundertmal so effizient wie Landpflanzen.
Dass die Natur uns auf vielen Gebieten bei technischen Problemstellungen Vorbild sein kann, wissen wir schon lange. Und „Bionik“ ist auch nicht mehr nur ein leeres Schachtelwort aus Biologie und Technik mit interessanten theoretischen Gedankenexperimenten, sondern tatsächlich schon in der Praxis angekommen: Ob Fachwerkskonstruktionen, selbstreinigende Oberflächen mit Lotus-Effekt oder die Aerodynamik von Flug- und Fahrzeugen – konkrete, alltagstaugliche Beispiele gibt es schon einige.
Die Unternehmensgruppe Festo in Esslingen – internationaler Spezialist für Steuerungs- und Automatisierungstechnik – hat die Bedeutung der natürlichen Vorbilder schon vor Jahren erkannt und gründete 2006 mit dem Bionic Learning Network einen internationalen Forschungsverbund aus Hochschulen, Instituten und Entwicklern, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, nach natürlichen Phänomenen Ausschau zu halten, die auf den Fabrikalltag übertragen werden könnten. Konkret entstanden sind dabei bereits künstliche Kängurus, Ameisen, Spinnen, Elefantenrüssel, Fischflossen oder auch Chamäleonzungen.
Kleine grüne Minifabriken liefern Rohstoffe für Alltagsprodukte
Eines der neuesten Projekte der Forschenden ist die Nutzung von lebenden Zellen als Mini-Fabriken zur Herstellung der verschiedensten Wertstoffe. Konkret: Die automatisierte Kultivierung von Biomasse in einem Bioreaktor, PhotoBionicCell genannt, der im Sinne einer klimaneutralen Kreislaufwirtschaft zu einer zunehmenden Biologisierung der Industrie beitragen und damit deren ökologischen Fußabdruck verkleinern soll.
„Im Bionic Learning Network haben wir schon lange die Kreislaufwirtschaft der Zukunft im Visier und überlegt, welchen Beitrag wir hierzu leisten können“, berichtet Dr. Nina Gaißert, Biotechnologin im Bionik-Team. „Weil wir auch mit lebender Materie arbeiten wollten, sind wir auf die Algen gestoßen, die sich hervorragend dazu eignen, um je nach Spezies unterschiedliche Substanzen zu produzieren. So begannen wir, einen Bioreaktor zu entwickeln, um damit lebende und technische Komponenten zu kombinieren und neue Materialien biologisch herstellen zu können – etwa Lebensmittel, Treib- oder Kunststoffe.“
Durch Automatisierung wird die perfekte Lebensumgebung geschaffen – und dies 24/7
Im neuartigen Bioreaktor aus Esslingen leben mikroskopisch kleine Algen – Mikroalgen –, die so genügsam sind, dass sie für ein gesundes Wachstum lediglich etwas Medium aus Mineralien und Salzen, Wasser, Licht und CO2 brauchen. Stellt man ihnen diese Komponenten dann auch noch unter Verwendung von Steuerungs- und Automatisierungstechnik exakt passend zur Verfügung, produzieren die grünen Minifabriken nicht nur eine ganze Menge Biomasse als Ausgangsmaterial für weitere wertvolle Substanzen unseres Alltags wie etwa Fettsäuren, Farbpigmente oder Tenside, sondern sie fixieren dabei auch noch hundertmal so viel CO2 wie Landpflanzen – bei wesentlich weniger Flächen- und Wasserverbrauch. Zudem können die biobasierten Endprodukte überwiegend biologisch wieder abgebaut werden.
Dabei wird auf die manuelle Komponente, die bei den meisten Laborarbeiten heute immer noch gefragt ist, praktisch komplett verzichtet; Fehlerquellen damit minimiert sowie Zeit und Kosten gespart: Die technische Lösung, die man bei Festo hierfür entwickelt hat, besteht aus einer komplett automatisierten 24-Stunden-Überwachung des Algenwachstums, und zwar so perfekt, wie die Mikroorganismen dies in keinem Gewässer der Welt haben könnten. Dazu entwickelten die Expertinnen und Experten eine umfangreiche Sensorik, etwa um den optimalen pH-Wert, das Verhältnis der Nährstoffe oder Algenanzahl und Wachstumsgeschwindigkeit im Bioreaktor erfassen zu können. „Mit bloßem Auge ist es unmöglich festzustellen, in welchem Lebenszyklus sich die Algen befinden, und ob es ihnen gutgeht“, erklärt Gaißert. „Die Sensorik aber ermöglicht uns genau das, und deshalb können sie in der PhotoBionicCell so effizient wie nur möglich heranwachsen.“
Für diese optimale Photosyntheseleistung ist vor allem die permanente Versorgung mit CO2 essenziell. Hierfür sorgt ein eigens entwickeltes Begasungselement, das die Umgebungsluft durch Ansteigen der Algenflüssigkeit in Flächenkollektoren ansaugt und diese anschließend im Reaktor in Bläschen zerstäubt, um möglichst große Reaktionsoberflächen zu erzeugen.
Befestigungsklammern aus Biokunststoff schon im Bioreaktor verbaut
Was auf den ersten Blick einen komplizierten Eindruck macht, ist denkbar einfach zu bedienen: Für den Bioreaktor, den der Laie leicht für eine Kombination aus kleinem Raumschiff und Heißluftballon halten könnte, wurde eine intuitive Oberfläche geschaffen, die es den Benutzenden ermöglicht, alle Prozessdaten und Sensorwerte in Echtzeit auf einer Webseite abzufragen und damit beispielsweise den optimalen Erntezeitpunkt herauszufinden. Hierfür kommen auch Methoden der Künstlichen Intelligenz zum Einsatz. „Theoretisch könnte man die Daten auch aus dem Homeoffice abfragen und ggf. sofort die Ernte einleiten“, sagt die Wissenschaftlerin. Mit einem weiteren Werkzeug, einer Augmented-Reality-App, können wiederum in Echtzeit alle Sensorwerte eingesehen werden. Dafür ist nur eine einzige Fixierung mit dem Smartphone nötig – in etwa so als ob der Anwendende ein Foto des Reaktors machen wollte.
Derzeit wird im Bioreaktor von Festo die Spezies Synechocystis kultiviert. „Wir haben uns nach Recherchen in Algendatenbanken für diese Mikroalge entschieden, weil wir zeigen wollten, dass es so möglich ist, Kunststoff – genauer das Biopolymer Polyhydroxybuttersäure PHB – zu produzieren“, sagt Gaißert. „Man kann das aber genauso gut auch mit anderen Algen machen, etwa mit Spirulina. Das kommt einfach auf die gewünschte Anwendung an. Man könnte sich im Prinzip alles synthetisieren lassen, was aktuell aus Erdöl hergestellt wird. Allerdings ist dies im Moment noch nicht wirtschaftlich genug. Was aber schon gut funktionieren würde, sind hochwertige Produkte aus den Algen wie Pharmazeutika.“
Mit der Kunststoffherstellung hat es in Esslingen bereits bestens geklappt: Aus Synechocystis-Kulturen konnte PHB gewonnen und durch Zusatz weiterer Stoffe zu einem Filament für den 3D-Druck und für Verpackungsmaterial verarbeitet und damit beispielsweise eine der Befestigungsklammern für den Reaktor hergestellt werden. An eine solche Kunststoffproduktion ist bei Festo selbst aber zukünftig nicht gedacht: „Unser Antrieb ist unser Spezialgebiet, nämlich die Steuerungs- und Regelungstechnik hierfür zu liefern“, so Gaißert. „Natürlich möchten wir den Reaktor von derzeit 15 l auf einen wesentlich größeren Maßstab skalieren, aber Festo plant nicht, diese Geräte dann auch zu bauen. Dafür brauchen wir Industriepartner.“
Stoffwechselwege sollen mit Synthetischer Biologie optimiert werden
Die Resonanz auf den neuartigen Bioreaktor ist auf jeden Fall bereits groß: „Traditionell präsentieren wir vom Bionic Learning Network unsere neuesten Projekte jedes Jahr auf der Hannover Messe“, berichtet die Expertin. „So auch dieses Jahr die PhotoBionicCell, und die Begeisterung war groß: Das ermutigt uns natürlich, weiter daran zu arbeiten, um das Ganze noch effizienter zu gestalten.“
Dies soll nicht nur technisch geschehen, sondern auch mittels Synthetischer Biologie: Gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie in Marburg arbeitet man an einer künstlichen Verbesserung der Photosynthese. Mit einem von Festo entwickelten Dispensierautomaten sollen Tausende am Computer designte Enzymvarianten getestet, in synthetisch hergestellte, CO2-fixierende künstliche Zellen, sogenannte Droplets, verpackt und ebenfalls im Bioreaktor kultiviert werden. Überhaupt wäre das entwickelte System auch auf andere industrielle Bioreaktoren bzw. Zellen übertragbar, damit chemische Prozesse zukünftig zunehmend durch biologische ersetzt werden können.
Anmerkung der Redaktion:
Wissenschaftlich gesehen gehören viele grüne, Photosynthese betreibende Mikroorganismen, wie die im Beitrag erwähnten Synechocystis oder Spirulina, nicht zu den Algen, sondern zu den Cyanobakterien. Cyanobakterien sind im Gegensatz zu Algen Prokaryoten und besitzen keinen Zellkern. Da sie aber die Fähigkeit zur Photosynthese besitzen, wurden Cyanobakterien früher taxonomisch zu den Algen gezählt und auch als Blaualgen bezeichnet. Im allgemeinen Sprachgebrauch und im öffentlichen Verständnis wird die o.g. Unterscheidung allerdings meist nicht gemacht, weshalb auch solche Spezies verallgemeinert oft als Mikroalgen bezeichnet werden.