Hauptnavigation
Bioökonomie: ein neues Modell für Industrie und Wirtschaft
Bioökonomie setzt einerseits auf nachwachsende Rohstoffe als Basis für Nahrungsmittel, Energie und Industrieprodukte. Andererseits betont sie die Rolle von Stoffkreisläufen biogener Wertstoffe. Mit diesem Modell soll langfristig die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen reduziert werden. Um die Bioökonomie regional zu entwickeln, hat Baden-Württemberg im Sommer 2013 eine Forschungsstrategie Bioökonomie verabschiedet.
Es ist das ganz große Rad, an dem Naturwissenschaftler, Ingenieure, Ökonomen, Ethiker, Politiker und andere zurzeit zu drehen beginnen. Dass es nur langsam in Schwung kommt, ist allzu verständlich. Es geht immerhin darum, eine Rohstoffrevolution anzuzetteln und ein neues System zu schaffen, in dem Wissenschaft, Wirtschaft und Wertschöpfung anders als bisher miteinander verflochten sind. In den kommenden Jahrzehnten sollen Öl, Erdgas und Kohle als Rohstoffe mehr und mehr an Einfluss verlieren. An ihre Stelle treten Pflanzen, Pflanzenreste, Bioabfälle und anderes biobasiertes Material. Wirtschaft und Wissenschaft sollen mehr denn je als System agieren. Und zwischen Wertschöpfungsketten werden Verbindungen geschlossen, die es bisher nicht gab.
Wirtschaftsfaktor Kohlenwasserstoff
Die Industrialisierung der vergangenen 250 Jahre basiert auf guten Ideen, Tatkraft und fossilen Rohstoffen. Daher sind heute alle industriell geprägten Volkswirtschaften auf Öl, Gas und Kohle aufgebaut. Erdöl spielt eine besondere Rolle, denn aus Erdöl werden organische Chemikalien, also Kohlenwasserstoffe, hergestellt. Diese wiederum sind die Grundlage für Energieträger wie Benzin, Dieselkraftstoff, Kerosin. Kohlenwasserstoffe bilden das wirtschaftliche Fundament der Chemieindustrie. Lösungsmittel, Lacke, Kunststoffe, Basis- und Feinchemikalien, Hilfsstoffe und vieles mehr beruhen auf komplexen, aber heutzutage bestens strukturierten und etablierten industriellen Prozessen, an deren Beginn das Erdöl steht.
Mobilität, Kommunikation, Ernährung, Landwirtschaft, Energiewirtschaft und weitere Branchen sind unmittelbar auf fossile Kohlenwasserstoffe angewiesen. Unser Alltag ist ohne Öl und Gas nicht mehr denkbar. Kohlenwasserstoffe haben einen enormen Einfluss auf die Wertschöpfung in allen Industrieländern und sie prägen das Geschehen im weltweiten Wirtschaftssystem maßgeblich.
Vier Herausforderungen
Soll die Bioökonomie erfolgreich realisiert werden, darf sie nicht versuchen, bestehende Infrastrukturen zu ersetzen. Sie muss auf die bestehenden Industrieprozesse aufbauen. Das heißt, sie muss zunächst Drop-in-Lösungen bieten, um in der Industrie Fuß zu fassen. Begleitend dazu müssen neue Prozesse, Produkte und Wertschöpfungsketten etabliert werden. Vier Herausforderungen gilt es zu bewältigen.
Erstens: Die Bioökonomie muss sich eine solide und sichere Rohstoffbasis über die landwirtschaftliche und die forstwirtschaftliche Produktion sichern. Diese Rohstoffe müssen so verteilt werden, das die Ernährung der Menschen gesichert ist, aber auch alle Wirtschaftssektoren, die diese Rohstoffe nutzen, berücksichtigt werden.
Eine wichtige Rohstoffquelle der Bioökonomie ist die Abfallwirtschaft. Sie kann mit Pflanzenresten, Gärresten, Bioabfall und Landschaftspflegegut Unmengen an biogenen Reststoffen bereitstellen. Diese könnten in erster Linie für Energie, Chemikalien und Materialien genutzt werden. Die Stoffströme der Abfallwirtschaft müssen dazu jedoch an die neuen Wertschöpfungsketten der Bioökonomie angepasst werden.
Die zweite Herausforderung ist, die biobasierten Rohstoffe mit sogenannten Konversionsverfahren in Kohlenwasserstoffe umzuwandeln. Konversionsverfahren sind die Brücke zwischen der alten Erdölchemie und der neuen Grünen Chemie. Kohlenwasserstoffe direkt aus Biomasse zu gewinnen, ist heute schon möglich. Doch die Verfahren müssen erst noch zur großindustriellen Reife entwickelt werden.
Die Konversion ist nur ein Bereich, in dem die Bioökonomie Umsatzchancen bietet. Weiteres Potenzial liegt in neuen Werkstoffen und Materialien. Vor allem durch die genau abgestimmte Prozessführung von chemischen, thermischen und biotechnologischen Verfahrensschritten lassen sich diese Potenziale freisetzen und nutzen. Ein Beispiel ist das biobasierte Polyamid-5,10, das im Cluster Biopolymere/Biowerkstoffe produziert wurde.
Die dritte Herausforderung ist die Nachhaltigkeit. Sie ist ein Merkmal, das von der Bioökonomie nicht zu trennen ist. Ohne Nachhaltigkeit keine Bioökonomie. Der Anspruch zieht weitere Anforderungen nach sich. Diese wurden in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zwar schon diskutiert und in Teilen auch bearbeitet, müssen gegenüber anderen Interessen von Wirtschaft und Industrie in Zukunft jedoch viel prominenter behandelt werden. Dazu zählen zum Beispiel konsequenter Klimaschutz, Wasser- und Bodenschutz oder der Schutz der Biodiversität. Rohstoffe aus Feld, Wald und Wiese künftig industriell nutzen zu wollen, heißt dann mehr denn je, die jeweiligen Ökosysteme zu pflegen und zu erhalten. Damit kommt die Biodiversitätsforschung ins Spiel. Für die Bioökonomie bedeutet das, die Artenvielfalt, also die Biodiversität zu fördern. Sie durch unbedachte, allein auf Masse ausgelegte Landnutzungsmethoden zu gefährden, wäre ein Widerspruch.
Bioökonomie berührt auch die Themen Ethik und Soziales. Landwirtschaftliche Flächen sind begrenzt. Es muss eine Entscheidung getroffen werden, welche Anteile für Nahrungsmittel, Futtermittel, Kraftstoffe und biobasierte Werkstoffe zur Verfügung gestellt werden soll. Vor dem Hintergrund von Hunger, Artensterben, Umwelt-und Klimaschutz fordert diese Konkurrenz eine grundlegende Einschätzung unter ethischen Gesichtspunkten. Der Strategiekreis Bioökonomie des Landes Baden-Württemberg hat in seinem Verständnis von Bioökonomie auch festgeschrieben, dass soziale Interessen ebenfalls berücksichtigt werden müssen.
Die vierte Herausforderung ist, die technologischen Lösungen, die in diesen Teilaspekten der Bioökonomie etabliert werden, in Arbeitsplätze, Anlagen, Dienstleistungen, Exportgüter umzuwandeln. Damit werden die volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Seiten der Bioökonomie erfüllt. Darüber hinaus müssen Kriterien entwickelt werden, mit denen sich Umweltschutz, Klimaschutz und Biodiversität ökonomisch bewerten lassen. Auch in diesem Punkt verlangt Bioökonomie ein Umdenken. Zum einen müssen solche Fragen nach immateriellen Werten gestellt werden dürfen. Zum anderen gilt es, weiche Faktoren wie Biodiversität als wertschöpfend anzuerkennen.
Bioökonomieforschung in Baden-Württemberg
Aus diesen Herausforderungen ergibt sich ein erheblicher Forschungsbedarf. Wissenschaftler in Baden-Württemberg untersuchen einige der Themen, die für die Bioökonomie tragende Bedeutung haben.
Mit Biomasseproduktion, Biomassepotenzialen, Flächennutzung, Landnutzungsänderungen und vielen anderen Aspekten biobasierter Rohstoffe befasst sich die Universität Hohenheim. Am Institut für Landwirtschaftliche Betriebslehre geht es unter der Leitung von Prof. Dr. Enno Bahrs vor allem um Effizienz. Wie können Flächen effizient genutzt werden? Welche Pflanzen bieten sich für welchen Zweck am besten an? Wie müssen Stoffflüsse und Produktionssysteme gestaltet und eingerichtet werden, um ideale Effizienz zu erreichen?
Professor Gero Becker, Leiter des Instituts für Forstbenutzung und Forstliche Arbeitswissenschaft der Universität Freiburg, untersucht, wie Holz als Reststoff industriell verwertet werden kann. Er berücksichtigt sowohl Biomasseaufkommen und -ressourcen als auch die Biomassequalität im Hinblick auf die Konversion.
Am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) forscht Professor Henning Bockhorn. Er entwickelte das "biomass steam processing", ein Verfahren, mit dem sich aus Restbiomasse Biokohle herstellen lässt.
Wissen als Basis
Der Wandel zur Bioökonomie ist ohne Wissenschaft und Forschung nicht möglich. Deshalb findet man in vielen Publikationen den Begriff „wissensbasierte Bioökonomie“ (knowledgebased bioeconomy, KBBE). Die Landesregierung Baden-Württemberg hat im Sommer 2013 ein „Forschungsprogramm Bioökonomie Baden-Württemberg“ beschlossen. Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst wird dafür von 2014 bis 2019 rund 12 Millionen Euro einsetzen. Die Schwerpunkte der Forschungen sollen auf Biogas, der Verwertung von Lignozellulose sowie der Nutzung von Mikroalgen liegen.