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Industrielle Biotechnologie – die nächste industrielle Revolution?
Ob Backen oder Brauen – der Mensch nutzt seit jeher biotechnologische Prozesse und lässt Mikroorganismen für sich arbeiten. Die Einsatzgebiete gehen allerdings weit über die Nahrungszubereitung hinaus. Die Wissenschaft erschließt immer mehr Anwendungsmöglichkeiten für biotechnologisch hergestellte Produkte in Pharmazie, Chemie und Energieversorgung. Eins haben alle neuen Verfahren gemeinsam: Sie nutzen erneuerbare Rohstoffe als nachhaltigen Ersatz für fossile. Mit den richtigen Prozessen und recycelbaren oder abbaubaren Produkten lässt sich so eine Kreislaufwirtschaft im Sinne einer nachhaltigen Bioökonomie realisieren.
Schon lange bevor sich im Zuge der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die rauchenden Schlote über den Köpfen der Menschen zu erheben begannen, waren sie in jedem Stadtbild präsent: Bäckereien und Brauereien. Auch wenn damals noch nicht bekannt war, was sich genau hinter dem Prozess der Gärung oder Fermentation verbirgt (diese wurden erst 1857 durch Louis Pasteur lebenden Mikroorganismen zugeschrieben und zunehmend wissenschaftlich erforscht), war die Herstellung von Bier, Wein, Essig oder Sauermilchprodukten bereits seit dem Altertum ein wesentlicher Bestandteil der Menschheitsgeschichte. So wurde zum Beispiel bemerkt, dass vergorene Milch länger haltbar als frische ist und leicht vergorener Getreidesaft im Gegensatz zum damaligen Trinkwasser oftmals weniger Krankheiten verursachte und zudem nahrhaft war. Ohne es zu wissen, haben Menschen also schon seit Anbeginn der Zeit Mikroorganismen, d. h. Bakterien oder Hefen, für ihre eigenen Zwecke »arbeiten« lassen.
Industrielle Biotechnologie – mehr als Bier und Essig
Was aber ist daran für unser heutiges Wirtschaften interessant? Wie kann dieses Wissen über den Stoffwechsel von Mikroorganismen in unsere gegenwärtige, hochtechnisierte Gesellschaft übertragen werden? Genau dieser Fragestellung geht das Arbeitsgebiet der industriellen Biotechnologie nach.
Die industrielle Biotechnologie nutzt die Kenntnisse von biologischen und biochemischen Prozessen sowie der Verfahrenstechnik und übersetzt diese in technische Prozesse. Ausschlaggebend ist hierbei die Nutzung natürlicher Ressourcen und biologischer Herstellungsverfahren, um Produkte des täglichen Bedarfs für die Menschen zu produzieren. Bekannte Beispiele hierfür sind, neben den bereits angesprochenen lebensmitteltechnologischen Prozessen, z. B. die Erzeugung von Bioethanol oder Biogas für die Energieversorgung, die Herstellung von Enzymen für Wasch- und Reinigungsmittel, von Vitaminen und Aminosäuren als Nahrungsergänzungsmittel oder von Antibiotika und Hormonen für die Pharmazeutik.
Nachhaltigkeit im Fokus
In Zeiten immensen Ressourcenverbrauchs, vor allem gedeckt durch verhältnismäßig billige fossile Energieträger und Rohstoffe, und im Schlaglicht aktueller Debatten um mehr Nachhaltigkeit in der Industrie stellt sich nun die Frage, wie zukünftig noch vermehrt industrielle Wertschöpfungsketten durch innovative biologische Verfahren ausgestaltet werden können. Und genau hier schließt sich auch der Kreis zur ersten industriellen Revolution. Während seither durch die beinahe exponentiell zunehmende Nutzung fossiler Energieträger − zunächst der Kohle und im 20. Jahrhundert vor allem Erdöl und Erdgas − der menschliche Einfluss auf die Umwelt immer deutlicher hervortritt, kann die industrielle Biotechnologie einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit in unserem Wirtschaftssystem leisten. Als solche stellt die industrielle Biotechnologie auch eine der Schlüsseltechnologien (engl. key enabling technology, KET) der Europäischen Union für zukünftige Forschung und Entwicklung dar.
Kreislaufwirtschaft und ein ganzheitliches Konzept im Rahmen der Bioökonomie
Zunächst einmal ist es entscheidend, dass für die Prozesse keinerlei fossile Ressourcen verwendet werden. Dies umfasst sowohl die für das Wachstum der Mikroorganismen notwendigen Substrate als auch vor allem die zugeführte Energie.
Auch wenn biotechnologische Prozesse naturgemäß bei niedrigen Temperaturen und atmosphärischem Druck ablaufen, ist für deren technische Umsetzung eine Energiezufuhr in Form von Wärme bzw. Kühlung, Rührung und oftmals auch Begasung mit Luft für die optimale Versorgung der Mikroorganismen im Bioreaktor notwendig. Hierbei ist es entscheidend, dass die notwendige Energie nicht aus fossilen Energiequellen stammt, sondern mittels erneuerbarer Energien gewonnen wurde. Nur so kann die Umweltbelastung verringert und der Einsatz fossiler Rohstoffe, wenn auch nur indirekt, vermieden werden.
Hinsichtlich der Substrate für die Organismen, welche per se aus nachwachsenden Quellen stammen, ist eine Verwendung von Reststoffen bzw. Nebenströmen z. B. aus der Lebensmittelproduktion oder Forstwirtschaft gegenüber einem dezidierten Anbau dieser Rohstoffe im Vorteil. So kann auch die oftmals zitierte »Teller oder Tank«-Problematik, die sich aus dem Anbau von Pflanzen für die technische Nutzung ergibt, vermieden werden.
Außerdem sollten die mittels der industriellen Biotechnologie hergestellten Produkte am Ende ihrer Nutzungsdauer entweder effizient recycelt oder biologisch abgebaut werden können, um einen Rohstoffkreislauf zu etablieren und eine weitere Anreicherung von schwer abbaubaren Produkten in unserer Umwelt zu vermeiden.
Um solch komplexe Sachverhalte zu beurteilen, ist eine detaillierte wissenschaftliche Analyse des kompletten Lebenszyklus der Produkte, vom primären Rohstoff über den Transport bis hin zum Produkt und dessen Entsorgung notwendig. Nur so kann sichergestellt werden, dass die biotechnologischen Prozesse auch wirklich nachhaltiger sind als bereits etablierte chemische Verfahren.
Letztendlich kann eine industrielle Biotechnologie also nur im Rahmen eines größeren und ganzheitlichen Konzepts, wie es z. B. die Bioökonomie vorsieht, erfolgreich sein.